Welt(en) verzeichnen

Thema Naturkundliche Verzeichnungspraktiken und ihre transformative Kraft

Eine kleines vergilbtes, gelochtes Papieretikett mit Flecken und vorgedrucktem Text am oberen Rand: Zoologischer Garten Berlin. Unten links: 780. Darüber, mittig, handschriftlich als Adressat: Museum.

Ein Schnipsel, der über den Austausch zwischen dem Zoologischen Garten Berlin und dem Museum für Naturkunde Berlin informiert. (MfN, HBSB, S004-02-05 96. Alle Rechte vorbehalten.)

Die Praxis der Erfassung und Dokumentation durchzieht all die auf dieser Website präsentierten Geschichten. Tatsächlich bildet sie den Kern des Sammelns, vor allem des naturkundlichen Sammelns. Dokumentationen und Verzeichnisse ermöglichen es uns erst, zu beantworten, wie Tiere in den Zoo kommen oder wie Mikroben klassifiziert werden, wie das Beispiel von Cycladophora davisiana zeigt. Die Fotos, Dokumente und Daten, die den Texten auf dieser Website zugrunde liegen, stellen verschiedene Formen dokumentarischer Aufzeichnungen dar, ebenso wie auch die Geschichten selbst. Für die Rekonstruktion der auf der Website versammelten Geschichten sind wir auf Dokumentationen und Verzeichnisse angewiesen und haben eine Vielfalt historischer und aktueller Praktiken vorgefunden, zu der auch unsere eigene Schreibpraxis beiträgt. Das mag zunächst überraschend klingen, stellen sich doch die meisten Menschen Objektverzeichnisse heute vermutlich als objektive, neutrale, exakte Darstellungen der Welt vor. Wie historische und sozialwissenschaftliche Studien über die wissenschaftliche Praxis gezeigt haben, sind Verzeichnisse jedoch weit mehr als eine reine Dokumentation und Erfassung der Natur: Sie beeinflussen maßgeblich die Art und Weise, wie wir die Welt ordnen und begreifen. Darüber hinaus entstehen Aufzeichnungen aus historisch verorteten Praktiken und durchlaufen mit der Zeit – und in jeweils unterschiedlichen Kontexten – erhebliche Wandlungen. Dies ist hier besonders wichtig, da der Schwerpunkt auf einem Netzwerk institutioneller Sammlungen in Berlin liegt, darunter die des Zoologischen Garten, des Museums für Naturkunde und der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin: Veränderungen in den Verzeichnungspraktiken verraten uns auch etwas über institutionellen Wandel und die Umstrukturierungen von Sammlungen, während weitreichende kulturelle und politische Paradigmenwechsel sich in den Methoden und Hilfsmitteln zur Dokumentation und Bestandsführung niederschlagen können. Indem wir hier die Verzeichnung naturkundlicher Welten zum Thema machen, wollen wir zeigen, dass Listen, Kataloge und Objektverzeichnisse die Welt nicht lediglich darstellen, sondern sie tatsächlich auch formen, indem mit ihrer Hilfe Tiere klassifiziert und Objekten Wert zugeschrieben wird, Sammlungen geordnet und Wissensordnungen wie die Taxonomie festgeschrieben werden.1

Bei der Verwandlung von Tieren in Zoo- oder Museumsobjekte spielen Verzeichnisse eine wichtige Rolle in dieser Objektwerdung: Die Dokumentation hinterlässt – buchstäblich und im übertragenen Sinne – Spuren auf den Tieren und den Sammlungen. Und wenn sich die Praktiken des Verzeichnens verändern, haben diese Veränderungen auch Folgen für Objekte und Sammlungen. Anders gesagt: Wissensbestände können als in und durch Dokumentations- und Archivierungspraktiken produziert begriffen werden. Objekte werden in Katalogen und Inventarverzeichnissen, Preislisten und Geschäftsbüchern, auf Etiketten, in Microsoft Access Datenbanken oder maßgeschneiderten Datenverarbeitungssystemen, in Notizbüchern, Journalen, Zuchtbüchern, den globalen Dateninfrastrukturen zu Biodiversität und wissenschaftlicher Forschung, oder auch in Fragebögen dokumentiert. Verzeichnisse erleichtern die Zirkulation von Tieren und der Informationen über sie, während sie ihnen zugleich konkrete Positionen innerhalb unterschiedlicher Klassifikationssysteme zuweisen und ihnen bestimmte Bedeutungen zuschreiben und Werte beimessen. Ein Beispiel dafür ist der Austausch zwischen dem Zoo und dem Museum für Naturkunde in Berlin. Die Prozesse, in deren Verlauf der Zoo Listen mit angebotenen Tieren erstellte, das Museum ihnen Preise zuordnete und die Tiere dann, versehen mit Objektbeschriftungen, verschickt wurden, werden in Tiere verzeichnen geschildert. Die verschiedenartigen Objektivierungen von Tieren (Wildtier, Zootier, Museumspräparat, Lehrmodell) entstehen somit durch physische und informationelle Verwandlung. In diesem Sinne fungieren Verzeichnismedien als Vehikel für die Zirkulation, den Austausch, aber auch die Transformation von Tieren auf dem Weg zwischen verschiedenen Institutionen und Sammlungen. Doch Listen, Inventarverzeichnisse und Etiketten dienen darüber hinaus auch als Instrumente für das Management von Sammlungen und, aus diesem Blickwinkel, als Mittel der Kontrolle.2 Sie spiegeln die Anordnung einer Sammlung und der ihr zugrunde liegenden Ordnung wider – wie z.B. die Taxonomie –, stellen sie aber gleichzeitig selbst mit her, indem sie implizit Beschränkungen einführen und bestimmen, was als relevant gilt, wie das Präparat eines Kleinen Fetzenfisches belegt.3 Unterschiedliche Arten von Sammlungen – Lehrsammlungen, Zoos oder Forschungssammlungen – arbeiten mit vielen verschiedenen Dokumentationsformen und -formaten, abhängig vom jeweiligen konkreten Zweck. Verzeichnisse lassen Rückschlüsse darauf zu, wie diese zahllosen (nebeneinander existierenden) Medien, Formate und Praktiken der Dokumentation und Bestandsführung zusammenwirken. Indem die Geschichten auf dieser Website die historischen Veränderungen von Dokumentationsweisen nachzeichnen, zeigen sie, wie die Praxis des Verzeichnens auch heute noch unsere Welt prägt und formt – beispielsweise in Prozessen, durch die Tiere zu Objekten werden und welche Bedeutung diese Objekte jeweils haben können. Unsere Geschichten zeugen aber auch davon, dass diese Umwandlungen in Objekte niemals reibungslos vonstattengehen, sondern von Widerständen und Herausforderungen gekennzeichnet sind – wie zum Beispiel, wenn Tiere auf dem Transport verrotten oder wenn sie zwar in einem Katalog aufgeführt, jedoch in der entsprechenden Sammlung nicht aufgefunden werden. Diese Momente der Widerspenstigkeit und die daraus folgenden Leerstellen sind gleichsam ein wichtiger Bestandteil jener Prozesse, durch die Tiere zu Objekten werden, und sie sind ein wichtiger Teil der Verzeichnispraxis und ihrer Geschichte.

Geschichte(n) des Verzeichnens

Über Listen, Kataloge und andere Formen der Dokumentation und Erfassung sowie ihre je spezifischen Formen und Formate ist viel geschrieben und geforscht worden.4 Wie diese Arbeiten aufzeigen, können wir Dokumentationen und Verzeichnisse auf zweierlei Art und Weise lesen: Quellen, Objektlisten, Eingangsbücher und Etiketten enthalten Informationen über die Anordnung und den Aufbau einer Sammlung, über ihre historische Entwicklung, die Anzahl oder Preise von einzelnen Tieren sowie institutionelle Veränderungen. Zugleich stellen aber auch die Dokumentationsformen selbst eigenständige Forschungsobjekte dar – ihre Verwendungsweisen, ihre epistemischen, sozialen und politischen Effekte sowie ihre Genealogien (z.B. ihre Ursprünge in der Buchführung) sowie Wandlungen in Form, Format und Funktion. Anhand solcher Studien haben Wissenschaftshistoriker:innen nicht nur zeigen können, dass beispielsweise das Londoner Naturkundemuseum oder das Zoologische Museum in Berlin ihre Sammlungen mithilfe bestimmter Verzeichnispraktiken aufbauten und ordneten.

Frontispiz eines abgewetzten, dunkelgrünen Eingangsbuchs; auf dem Beschriftungsetikett steht: Zoologischer Garten, 1. April 1908 bis 30. Sept. 1912

Doppelseite des Eingangsbuchs des Zoologischen Gartens, mit vorgedruckter Tabelle und handschriftlichen Einträgen. Oben: Oktober 1909. Spalten, von links nach rechts: Eingangsdatum, Menge, Bezeichnung, Geschlecht, drei Spalten für verschiedene Präparattypen (Balg, Schädel, Skelett, Spiritus), Mitteilungen, Gelder, Ablieferung.

Dieses Eingangsbuch enthält Informationen über die Anzahl und Arten der Tiere, die zwischen 1908 und den 1940er Jahren vom Zoologischen Garten Berlin an das Zoologische Museum überführt wurden. Im Museumsarchiv befinden sich drei Eingangsbücher in diesem Format mit je rund 70 Seiten. (MfN, HBSB, Eingangsbücher Zoologischer Garten 1908-1913, unerschlossen.)

Gleichzeitig haben sie darauf hingewiesen, wie Dokumentations- und Erfassungssysteme als Überwachungsmechanismus für die Kontrolle der Feldarbeit aus der Ferne und zur Übersicht der internen Abläufe großer Museen fungierten; oder wie Katalogverzeichnisse nicht nur als Suchhilfe dienen, sondern auch als Machtinstrument beim Management und der Kontrolle der Wissensproduktion und Forschungspraxis. Auf diesen Arbeiten aufbauend, legt unsere Website den Schwerpunkt auf den Transfer von Objekten in und zwischen verschiedenen Institutionen: dem Zoologischen Garten Berlin, dem Museum für Naturkunde Berlin und der Zoologischen Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin. Den ‘paper trail’ der Tiere in und durch diese Institutionen über ihre gemeinsame Geschichte hinweg zurückzuverfolgen, gibt Aufschluss über die Provenienz und die zurückgelegten Transportwege von Tieren und ermöglicht so zumindest eine teilweise Rekonstruktion ihrer Biografien. Auf den Spuren der Tiere durch unterschiedliche Umgebungen begeben auch wir uns auf eine Reise durch verschiedene Medien. Diese Spurensuche offenbart alle möglichen Arten von Aufzeichnungen, mit deren Hilfe die Weitergabe der Tiere dokumentiert, systematisiert und erleichtert wurde. Ein Register zur Erfassung von Reptilien und Amphibien, die von 1914 bis 1915 vom Zoo-Aquarium an das Zoologische Museum überstellt wurden, ist ein sprechendes Beispiel für die Bedeutung des Verzeichnens von Tieren. In diesem Fall markiert die Zuteilung einer Inventarnummer und eines Preises die Verwandlung eines Tieres in ein Museumsobjekt, woraufhin es zum Eigentum des Museums und zum Bestandteil von dessen Sammlungen oder Ausstellungen wurde. Dieser Vorgang ist entscheidend dafür, dass das Tier seinen Status ändert, also von einem lebenden Zootier in die Form eines toten und präparierten Sammlungsobjekts übergeht.5

Unter den Sammlungen, die wir in den Blick genommen haben, dienten einige Forschungszwecken, andere der zoologischen Lehre, und wiederum andere, wie Zoologische Gärten, der Präsentation lebender Tiere. Diese unterschiedlichen Verwendungs- und Verwertungsweisen von Tieren spiegelt sich einerseits in den verschiedenen Arten des Verzeichnens wider, wirkt anderseits aber auch auf die Praxis des Verzeichnens zurück. Von der Steinmetz-Karte und den Journalen des Zoos, zu den Karteikarten und Inventarkatalogen der Zoologischen Lehrsammlung sowie den Tagebüchern des Zoologischen Museums, unterscheidet sich die Dokumentation und Katalogisierung der Tiere je nach den praktischen Erfordernissen und Funktionen einer Sammlung sowie den spezifischen Vorlieben einzelner Kurator:innen zu verschiedenen Zeiten.

Die Frühphase naturkundlicher Museen in Europa war von einer Fülle von Dokumentations- und Erfassungspraktiken gekennzeichnet. Im Zoologischen Museum Berlin (dem heutigen Museum für Naturkunde) finden wir beispielsweise über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg ein Nebeneinander vieler verschiedener Dokumentationsformen und -formate: Notiz- und Tagebücher, Etiketten und verschiedene Formen der Katalogisierung bei der Erfassung eintreffender Sammlungsobjekte. Berlin bildete hier keine Ausnahme. In ganz Europa wurden aufwendige Verfahren zur Bearbeitung, Verwaltung und Buchführung der aus der kolonialen ‘Sammelwut’ resultierenden Masse an naturkundlichen Objekten entwickelt, wie es Anne MacKinney bezüglich des Zoologischen Museums in Berlin herausgearbeitet hat. James Delbourgo wiederum hat in Bezug auf Hans Sloane und das British Museum sowohl die in den frühen Katalogisierungspraktiken manifesten enzyklopädischen (Macht-)Anspruch als auch die Ungenauigkeit und Unordnung dieser frühen Praktiken untersucht, während Lukas Rieppel gezeigt hat, wie das American Museum of Natural History die bürokratischen Praktiken großer Unternehmen auf philanthropische Museen übertrug.6 Nicht nur die verwendeten Medien, sondern auch die konkreten Praktiken der Dokumentation und Erfassung weisen ein breites Spektrum auf: Es reicht von informellen Randbemerkungen und improvisierten Notizen bis hin zu standardisierten Dokumentationssystemen. Diese Quellen können uns viel über die Nutzung von Tierobjekten sowie die Organisation von und Arbeitsabläufe in Sammlungen erzählen. Darüber hinaus helfen auch Notizbücher, wie das des Tierpräparators Friedrich Beyer, bei der Rekonstruktion der Verbindungen zwischen dem Zoologischen Museum und anderen Institutionen. Angebote und Lieferlisten offenbaren die Einzelheiten des Austausches zwischen diesen Institutionen und bieten Einblicke in ihre Ökonomie der Schenkungen, Kauf- und Tauschgeschäfte.

Zugleich finden wir in den einzelnen Sammlungen erhebliche inhaltliche und methodische Unterschiede bei der Erfassung und Dokumentation vor. Beispielsweise werden Ortsangaben in der Lehrsammlung und dem Museum jeweils sehr unterschiedlich dokumentiert: Im Museum für Naturkunde muss der Fundort eines jeden Tieres so präzise wie möglich angegeben werden. Im Gegensatz dazu reicht es in der Zoologischen Lehrsammlung aus, das Verbreitungsgebiet der Tierart zu benennen. Wenngleich diese Unterschiede gering erscheinen, so sind ihre Folgen oft weitreichend, da sie das Dokumentationsformat beeinflussen und damit die Bandbreite dessen bestimmen, was genau erfasst wird. Unterschiede in den Verzeichnispraktiken verweisen zugleich auf epistemische, institutionelle und kulturelle Grenzen: Sobald Objekte von Zoos und Händler:innen das Museum erreichten, floss viel Aufwand in die Rekonstruktion ihrer genauen Herkunft. Die zoologische Forschung verlangte zunehmend detailliertere Angaben, besonders im Hinblick auf den Fundort gesammelter Objekte und nicht selten gab es Unmut über eine spärliche und mangelhafte Dokumentation seitens der Händler:innen oder Tierfänger:innen, für die Geldwert der Tiere ausschlaggebend war.7

Wuchernde Aufzeichnungen

Im Laufe des 19. Jahrhunderts gab es im Zusammenhang mit den hier vorgestellten Sammlungen Bemühungen zur Einführung einheitlicher Dokumentationsformate und -praktiken. Während Objekte zunächst nicht systematisch und nur unvollständig erfasst wurden, setzte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend die Führung von Eingangs- und Inventarverzeichnissen mit individuellen Inventarnummern für alle Objekte durch. Ab dem späten 20. Jahrhundert wurden immer mehr Objekte in digitalen Datenbanken und Exceltabellen erfasst. Die Gründe sind vielfältig. Erstens führte der technische Fortschritt, insbesondere im Bereich computergestützter Verfahren, zu neuen Dokumentationsformen. Außerdem führten die Bemühungen, die tägliche Arbeit in den Sammlungen zu erleichtern, zu Neuerungen bei den verwendeten Medien. So ersetzte die Zoologische Lehrsammlung beispielsweise in den späten 1960er Jahren ihre gebundenen Kataloge durch Karteikarten.

Bild einer von oben aufgenommenen Schublade, die hunderte von aufgereihten Karteikarten enthält. Manche sind durch Post-its sowie weitere Zettel ergänzt und ragen heraus, während die meisten dichtgepackt aufgereiht sind.

Kasten zur Aufbewahrung von Karteikarten, die für die Bestandsführung der Zoologischen Lehrsammlung genutzt werden. (Foto: Mareike Vennen/Zoologische Lehrsammlung. Alle Rechte vorbehalten.)

Diese erwiesen sich als flexibler und buchstäblich leichter zu handhaben. Sie vereinfachten die Einpflegung neuer Objekte und die Anpassung bestehender Verzeichnisse. Ein weiterer Grund waren neue Gesetze zum Tier- und Artenschutz, die neue Regulierungsmaßnahmen für den Handel mit und Transport von Tieren sowie für den Austausch zwischen Zoos und Museen beinhalteten. Dazu zählten auch neue Dokumentationsvorgaben. In der Kolonialzeit wurden Millionen von Objekten ohne nennenswerte Regulierung gesammelt, was mangelhafte Aufzeichnungen und dokumentarische Angaben zur Folge hatte. Als nach dem Zweiten Weltkrieg internationale Zuchtprogramme ins Leben gerufen wurden und die Verbindung zwischen Zoos und Artenschutz stärkte, wurde eine detailliertere Dokumentation unverzichtbar. Gleichzeitig machten Abkommen wie das Washingtoner Artenschutzabkommen (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Flora and Fauna, CITES) ab 1973 Provenienzangaben verpflichtend, um so eine Rückverfolgbarkeit zu garantieren.

Doch trotz dieser Bemühungen um Standardisierung sind wir auch heute noch weit entfernt von einem universellen (oder auch nur einheitlichen) Dokumentations- und Erfassungssystem. Institutionen wie Zoos, naturkundliche Museen und Lehrsammlungen verwenden unterschiedliche Datenbanken, von Species360 bis zur NSB Datenbank. Hinzu kommt, dass die Dokumentationspraktiken der Vergangenheit uns heute vor erhebliche Herausforderungen stellen können: Wir arbeiten schließlich mit Angaben, die das Resultat historischer Entscheidungen darüber sind, was und wie aufgezeichnet, erfasst und dokumentiert werden sollte. Diese Entscheidungen entsprangen nicht selten politischen Haltungen oder wirtschaftlichen Logiken, die heute nicht mehr gelten oder überhaupt zu rechtfertigen sind. Die Exzesse der kolonialen Sammelwut erschwerte nicht nur die gewissenhafte Dokumentation jedes einzelnen eingehenden Objekts; in vielen Sammlungen weltweit gibt es noch zahllose Objekte, die bis heute (noch) nicht inventarisiert sind. Das erklärt auch, warum es so schwierig ist, die genaue Zahl von Objekten in manchen Sammlungen zu beziffern, vor allem bei jenen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Die Praktiken des Verzeichnens in naturkundlichen Sammlungen können, das zeigt sich hier, auch selbst zum Objekt politischer Entscheidungen werden – Entscheidungen darüber, was wann und für wen von Bedeutung ist: Wenngleich diese Praktiken auf den ersten Blick banal erscheinen mögen, so ist die Frage, was erfasst und dokumentiert wird, äußerst folgenschwer. Die Klärung dieser Frage bedarf daher eines kollektiven Entscheidungsfindungsprozesses. Das gilt heutzutage umso mehr, da neue Erfassungs- und Dokumentationstechnologien sich immer mehr durchsetzen und alte ersetzen, verdrängen und in Vergessenheit geraten lassen. Statt einer linearen Fortentwicklung müssen wir allerdings nach wie vor ein Nebeneinander verschiedener Dokumentations- und Erfassungsformate konstatieren. Kurator:innen müssen heute stets auf dem neuesten technischen Stand des Datenmanagements, zugleich aber auch in der Lage sein, Katalogeinträge aus dem 19. Jahrhundert zu lesen und historische Beschriftungen aufgrund ihres Erscheinungsbilds einzuordnen und korrekt zu datieren. Dieser Aspekt der Sammlungsdokumentation verdeutlicht eine weitere wichtige Dimension der Museumsarbeit: Nicht nur die Sammlungsobjekte selbst, sondern auch ihre spezifische Erfassung und Dokumentation sind Gegenstand und Instrument politischer Debatten. Gerade die aktuellen Debatten über die Rückgabe von geraubten Kulturgütern drehen sich um die Frage offener und umfassender Dokumentation und Digitalisierung als entscheidende Schritte hin zu einer Neubewertung kolonialer Sammlungsbestände.8 Während dies äußerst wichtig ist, verdeutlichen die Beispiele, die auf dieser Website versammelt sind, gleichzeitig einige der ganz praktischen Herausforderungen. Dazu zählt die schwierige Überführung von historischen Daten und Medien in neue, digitale Formate. Die Digitalisierung von Daten ersetzt gleichwohl nicht die Provenienzforschung, die jene Hintergrundzusammenhänge untersucht, die in der Regel nicht beachtet werden, wenn ein naturkundliches Objekt ausschließlich als Gegenstand taxonomischer Informationen dient. Um die Geschichten von Objekten nachzuvollziehen, bedarf es der Digitalisierung und der historischen Forschung in Archiven und Sammlungen, in Zusammenarbeit mit jeweils betroffenen Communities. Die Arbeit in einer naturkundlichen Sammlung hängt also eng mit dem Bemühen zusammen, die Welt zu erfassen. Wie wir in den hier präsentierten Geschichten zeigen, haben diese Anstrengungen bislang nicht zu einer universellen, umfassenden und klar definierten Dokumentationspraxis geführt. Stattdessen sind die Medien und Praktiken des Verzeichnens permanent im Wandel und die Tiere, Objekte, Sammlungen, aber auch Sammler:innen, Kurator:innen und Forschende (wie wir selbst) sind von diesen Wandlungen ebenfalls betroffen, ja, affiziert. Die Erfassung und Dokumentation der Welt verändert die Welt zugleich auch. Die Grundfrage bei Entscheidungen über Datenformate, Dokumentationsstandards und Datenbankmodelle, aber ebenso bei der Nutzung einfach anmutender Papierlisten, sollte daher immer lauten – um es frei nach Donna Haraway zu sagen: Was wird erfasst und dokumentiert, und für wen, und zu welchem Preis?


  1. Die Gestaltungs- und Definitionsmacht von Verzeichnissen oder besser gesagt, von Akten, steht im Zentrum der Arbeiten von Cornelia Vismann vgl. etwa Cornelia Vismann. Das Recht und seine Mittel. Frankfurt a.M.: Fischer, 2012; Cornelia Vismann. Akten: Medientechnik und Recht. Frankfurt a.M.: Fischer, 2000.
  2. Listen stehen beispielhaft für diesen Prozess. Von Objektlisten zu Listen von Personen (z.B. Spender:innen, Sammler:innen, oder auch von Tieren), bildeten Listen zweifellos Schlüsselmedien der Naturkunde. Siehe z.B. Anne MacKinney. “Liste”. microform Podcast, 12.02.2019, http://www.kleine-formen.de/enzyklopaedie-liste/; James Delbourgo und Staffan Müller-Wille. “Introduction”. Isis 103, Nr. 4 (2012): 710-715; James Delbourgo. “Listing People”. Isis 103, Nr. 4 (2012): 735-742. Diese Studien verfolgen nicht nur die Wege des Wissens, das gemeinsam mit den gesammelten Objekten über das Meer von einem Kontinent zum anderen befördert wurden, sondern auch die Stimmen und das Wissen, die verloren gingen, ignoriert oder aus der historischen Überlieferung getilgt wurden.
  3. Siehe Staffan Müller-Wille. “Carl Linnaeus’s Botanical Paper Slips (1767-1773)”. Intellectual History Review 24 (2014): 1-24; Hanna Hodacs u.a. Linnaeus, Natural History and the Circulation of Knowledge. Oxford: Voltaire Foundation, 2018.
  4. Wissenschaftshistoriker:innen untersuchen u.a. die Genealogien, Praktiken und Politiken des Aufzeichnens: Lorraine Daston. “Taking Notes”. Isis 95, Nr. 3 (2004): 443-448; Ann Blair. “The Rise of Note-Taking in Early Modern Europe”. Intellectual History Review 20, Nr. 3 (2010) 303-316. Untersuchungen der Transfers von Tieren und Pflanzen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert haben die wichtige Rolle von Anleitungen hervorgehoben; vgl. aus dem wachsenden einschlägigen Literaturbestand etwa Mareike Vennen. Das Aquarium: Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910). Göttingen: Wallstein, 2018; Nigel Rigby “The Politics and Pragmatics of Seaborne Plant Transportation, 1769-1805”. In Science and Exploration in the Pacific: European Voyages to the Southern Oceans in the Eighteenth Century, Margarette Lincoln (Hg.). Woodbridge: Boydell Press in Zusammmenarbeit mit dem National Maritime Museum, 1998: 81-100.
  5. Wissenschaftshistoriker:innen haben kürzlich gezeigt, wie sich das Verzeichnen in der Naturkunde aus früheren administrativen Buchführungspraktiken entwickelte und wie sowohl ältere Formen übernommen als auch neue geschaffen wurden, darunter Buchführungsmethoden einschließlich der jeweiligen entsprechenden moralischen Ökonomien und epistemischen Tugenden: Anke te Heesen. “Accounting for the Natural World: Double-Entry Bookkeeping in the Field”. In Colonial Botany: Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World. L. Schiebinger und C. Swan (Hg.). Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2005: 237-251.
  6. Lukas Rieppel. Assembling the Dinosaur: Fossil Hunters, Tycoons, and the Making of a Spectacle. Anne MacKinney hat die Anfänge der Bestandserfassung und -verzeichnisse am Zoologischen Museum analysiert: Anne MacKinney. “Objekte und Objektverzeichnisse in naturkundlicher Sammelpraxis: Das Beispiel des Berliner Zoologischen Museums von 1810 bis etwa 1850”. In Materielle Kultur in universitären und außeruniversitären Sammlungen. Gesellschaft für Universitätssammlungen (Hg.). Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin, 2017: 23-28. https://doi.org/10.18452/18536. Für den Fall Hans Sloane und die Anfänge des British Museum (Natural History) vgl. James Delbourgo. Collecting the World: Hans Sloane and the Origins of the British Museum. Cambridge: The Belknap Press of Harvard University Press, 2017.
  7. Viele naturkundliche Museen begannen fortan, ihre eigenen Leitfäden für Sammler:innen im Feld zu verfassen mit präzisen Anleitungen für die Beschriftung von Etiketten und Frachtbriefen, samt der Aufforderung zu möglichst genauen Angaben über den/die Sammler:in und wo und wann das Tier gesammelt wurde.
  8. Für eine Diskussion des Zusammenhangs zwischen der Dekolonialisierung von Museumssammlungen und Datenverarbeitungspraktiken, siehe Bénédicte Savoy. Afrikas Kampf um seine Kunst: Geschichte einer postkolonialen Niederlage. München: C.H. Beck 2021; Kelley Hays-Gilpin, Atsunori Ito und Robert Breunig. “Decolonizing Museum Catalogs: Defining and Exploring the Problem”. Trajectoria 1 (2020). http://doi.org/10.15021/00009509. Für ein Beispiel aus Berlin, siehe https://www.smb.museum/en/research/research-projects/provenance-and-collections/.
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