Die Taxonomie (von griechisch ‘taxis’, Ordnung, und ‘nomos’, Gesetz) bezieht sich auf die Art und Weise, wie Menschen die Welt um sie herum klassifizieren und kategorisieren. Taxonomien sind also überall am Werke und können sich auf alle Arten von Dingen beziehen; aber in der Biologie bezieht sich die Taxonomie auf ein spezifisches System zum Ordnen und Klassifizieren aller Erscheinungsformen des Lebens. In diesem engeren biologischen Sinne ist die Taxonomie ein formales System zur Benennung, Definition und Klassifizierung von Gruppen von Organismen, das bestimmten Regeln, auf die sich Expert:innengemeinschaften und internationale wissenschaftliche Institutionen geeinigt haben, unterliegen.
Dieses formale System hat seinen Ursprung in der Arbeit des schwedischen Botanikers Carl von Linné aus dem 18. Jahrhundert.1 Wie viele andere frühe Naturforscher:innen machte er es sich zum Ziel, ein Klassifikationssystem für alle Geschöpfe Gottes zu entwickeln. Obwohl er sich einige der Kategorien, die er festlegte, als natürliche Klassen vorstellte, war sein System bewusst ein künstliches. Er entwarf es als praktisches organisatorisches Mittel. So führte er die Standardreihenfolge von Reich, Klasse, Ordnung, Gattung und Art ein und etablierte die binäre Nomenklatur – die Verwendung von zwei lateinischen Namen – als feste Regel für die Benennung von Arten. Dank dieses klaren Aufbaus und Linnés eigener umfangreicher taxonomischer Arbeiten fand sein Modell großen Zuspruch. Einige entscheidende formale Aspekte seines Systems sind immer noch in Gebrauch. In der Tat gelten zwei Bücher von Linné weithin als Ursprung der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie: Das 1753 erschienene Species Plantarum und die 1758 veröffentlichte 10. Ausgabe des Buchs Systema Naturae.
Ein System im Wandel
Trotz des Erfolgs des Linné’schen Systems erlangte die biologische Taxonomie nie eine beständige Form oder allgemeine Gültigkeit. Von Anfang an wurde das System kontrovers aufgenommen und diskutiert. Noch heute ändern sich Klassifizierungen immer wieder, wie z.B. bei Cycladophora davisiana oder dem kleinen Fetzenfisch. Die botanischen und zoologischen Traditionen begannen sich bereits zu Linnés Lebzeiten auseinanderzuentwickeln, was zu zwei verschiedenen Codes für die Nomenklatur von Tieren und Pflanzen führte – dem International Code of Zoological Nomenclature und dem früheren botanischen Code. Vor allem ab dem 20. Jahrhundert begann man zunehmend, Organismen zu beschreiben, die nicht in die Linné’schen Kategorien passten, wie Pilze, Protisten und andere (oft mikroskopisch kleine) Lebensformen,2 was die Regelung der taxonomischen Nomenklatur zusätzlich erschwerte. Infolgedessen wurde der botanische Code zum International Code of Nomenclature for algae, fungi, and plants. In den 1960er Jahren entstanden zwei weitere Codes, der International Code of Nomenclature of Bacteria und das International Committee on Taxonomy of Viruses.3
Trotz der frühen Abtrennung der Pflanzen- von der Tiersystematik erlebten beide im Laufe des 19. Jahrhunderts einen parallel verlaufenden und bedeutsamen Wandel, der die Taxonomie radikal veränderte. Taxonomische Ordnungen entwickelten sich zu wirkmächtigen Systemen, die Unterschiede als naturgegeben darstellten.4 Während die Hierarchie der Einzelkategorien oftmals als Baum (Dendrogramm) grafisch dargestellt wurde, gewann die Vorstellung, dass taxonomische Unterschiede die natürliche Transmutation von Arten bewiesen, an Popularität. Ende der 1850er Jahre stellten Charles Darwin und Alfred Russel Wallace ihre Theorien über den Ursprung der Arten vor,5 woraufhin die Klassifizierungen von Organismen deren Abstammungsverhältnisse im Einklang mit der aufkommenden Theorie der Evolution durch natürliche Selektion darstellten. Obwohl sie auf explizit künstlichen Kategorien basierte, wurde die Taxonomie zunehmend als natürliches System aufgefasst, das auf evolutionärem Wandel beruhte.
Taxonomie und Phylogenetik
Dieser Umbruch im Verständnis der Taxonomie fand seinen Ausdruck in Ernst Haeckels Darstellung der evolutionären Abstammungsbeziehungen, die alles Leben miteinander verbinden, in seinem 1866 erschienenen Buch Generelle Morphologie der Organismen. Darin führte Haeckel auch erfolgreich einen neuen Rang ein, nämlich den des Stammes, eine Zwischenstufe zwischen Reich und Klasse. Das Spannungsverhältnis zwischen einer rein morphologischen oder deskriptiven Taxonomie und einem evolutionären und phylogenetischen Ansatz natürlicher Klassen wurde jedoch nie aufgelöst: Bei taxonomischen Ordnungen geht es daher sowohl um die Organisation, Beschreibung und Identifizierung von Arten als auch um ein Verständnis ihrer wechselseitigen genealogischen und evolutionären Beziehungen. Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich in gewisser Weise in der Unterscheidung zwischen Alpha- und Beta-Taxonomie wider, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkam – wobei sich erstere mit der Beschreibung von Taxa befassen sollte und die zweite mit höheren Stufen und allgemeineren Fragen. Außerdem offenbart diese Unterscheidung noch ein weiteres, implizites Spannungsverhältnis, nämlich zwischen dem systematischen Bemühen der Naturkunde, die gesamte Natur zu katalogisieren, und dem Wunsch der Evolutionsbiologie, die Abstammungsbeziehung aller Lebewesen abzubilden und nachzuvollziehen. Auch die Moderne Evolutionäre Synthese,7 die in den 1950er Jahren einen Versuch darstellte, die Darwin’sche Evolutionstheorie und die Mendelsche Genetik miteinander in Einklang zu bringen, scheiterte bei der Etablierung eines universellen Ansatzes für die Taxonomie.
Selbst als die Molekular- und Computerbiologie die Biowissenschaften ab den 1980er Jahren zu revolutionieren begannen, gelang es nicht, die Taxonomie vollständig zu standardisieren. Die Kladistik – die Systematisierung phylogenetischer Unterschiede – bestimmte zwar zunehmend die Klassifizierung, aber der eigens für diesen Ansatz entwickelte Nomenklaturcode PhyloCode konnte die verschiedenen anderen existierenden Codes nie vollständig ersetzen.8 Als praktisches Werkzeug für Wissenschaftler:innen umfasst die Taxonomie weiterhin verschiedene Ansätze, Traditionen und Ziele, was sich in den vielfältigen wissenschaftlichen Verwendungsweisen taxonomischer Ordnungen zeigt. In der Tat ziehen es viele Wissenschaftler:innen vor, bestimmte Taxonomien zu verwenden, die zu ihren Spezialgebieten passen, anstatt eine holistische und universalistische Zusammenstellung anzustreben. Unabhängig von einer konzeptionellen Synthese scheinen sich pragmatische Werkzeuge wie digitale Datenbanken gut zu eignen für die Zusammenführung unterschiedlicher taxonomischer Ordnungen und die Lösung (oder Umgehung) bestehender Kontroversen.9
Digitalisierung
Die Zahl der digitalen Datenbanken, die einen einfacheren Zugang, eine demokratischere Beteiligung von Interessierten und vor allem mehr Standardisierung, Präzision und Rechenleistung ermöglichen, hat sich stark erhöht. Encyclopedia of Life, Global Biodiversity Information Facility, NCBI-Taxonomy Database, Open Tree of Life, Catalogue of Life und Zoological Information Management System (ZIMS) sind nur einige der bedeutendsten Datenbanken; je mehr sie genutzt werden, desto erfolgreicher und etablierter werden sie – mittels einer positiven Rückkopplungsschleife, die die Praxis der Taxonomie verändert. Diese digitalen Ressourcen für die biologische Taxonomie helfen Wissenschaftler:innen, mit den sich ständig erweiternden und verändernden Klassifikationen Schritt zu halten, was sie anders möglicherweise gar nicht mehr leisten könnten. Digitale Datenbanken haben die Taxonomie in gewisser Weise revolutioniert. Wegen der Privilegierung dieser computergestützten und statistischen Ansätze sind die Datenbanken jedoch auch dafür kritisiert worden, dass sie das Fortbestehen der ohnehin bedrohten taxonomischen Expertise weiter gefährden: Immer weniger Biolog:innen befassen sich im Detail mit den komplexen, sich ständig wandelnden taxonomischen Klassifikationen und ihren historischen Verflechtungen, da molekulare Techniken oft leichter zugänglich sind und eine Aura der Wissenschaftlichkeit ausstrahlen. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, arbeiten Taxonom:innen gemeinsam an neuen, experimentellen Methoden, um taxonomisches Wissen zu bewahren, zum Beispiel durch Initiativen wie das European Distributed Institute of Taxonomy, das sich für den Erhalt des taxonomischen Fachwissens einsetzt, indem es neue Generationen von Wissenschaftler:innen ausbildet, aber auch durch die Beteiligung an der Gestaltung und Verwaltung von Dateninfrastrukturen – insbesondere im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Sammlungen in Museen und Forschungsinstituten.10
Wie alle Klassifikationssysteme bringen auch biologische Taxonomien Machtverhältnisse zum Ausdruck: Sie definieren Kategorien, produzieren Ein- und Ausschlüsse und setzen diese Ordnung durch. Und da sie die Gestaltung und Anordnung von Ausstellungen und Sammlungen prägen, werden diese Ordnungssysteme deutlich sichtbar und nachvollziehbar, etwa in den Verzeichnismedien des Museums für Naturkunde Berlin, der Lehrsammlung der Humboldt-Universität zu Berlin und historischen Architekturen des Berliner Zoos. Änderungen der taxonomischen Ordnungen führen oft zu Veränderungen in der Darstellung und Zuordnung von Tieren in zoologischen Sammlungen und ihrer Architektur. In diesem Sinne sind taxonomische Ordnungen niemals neutral. Sie haben signifikante und reale Konsequenzen.11 Dies wird besonders deutlich in den gegenwärtigen technokratischen Handlungsansätzen in Bezug auf den Klimawandel und die dringend notwendige Quantifizierung und das Management des Biodiversitätsverlustes.12 Wenn unterschiedliche taxonomische Ansätze zu unterschiedlichen Interpretationen von Daten und unterschiedlichen Schwellenwerten führen können, untermauern sie damit auch jeweils unterschiedliche politische Bewältigungsstrategien für die Klimakrise. Daher ist die Taxonomie als ordnendes Instrument für die Bewältigung der Herausforderungen eines sich wandelnden Planeten von zentraler Bedeutung.
- Zu Linné: “Who was Linnaeus?”. The Linnean Society of London, ohne Datum. https://www.linnean.org/learning/who-was-linnaeus (01.07.2021).↩
- Siehe z.B. die Klassifizierung von Infusorien in der Mikropaläontologie, die sich geändert hat.↩
- Für Details zu den Codes siehe Dan H. Nicolson. “A History of Botanical Nomenclature”. Annals of the Missouri Botanical Garden 78, Nr. 1 (1991): 33-56. https://doi.org/10.2307/2399589.↩
- Siehe Staffan Müller-Wille. “Reproducing Difference: Race and Heredity from a Longue Durée Perspective”. In Race, Gender and Reproduction: Philosophy and the Early Life Sciences in Context. S. Lettow (Hg.). Albany: SUNY Press, 2014: 217-235.↩
- Zu C. Darwin, A.R. Wallace und Evolution, siehe: “Natural Selection: Charles Darwin & Alfred Russel Wallace”. 22.08.2008, https://evolution.berkeley.edu/evolibrary/article/0_0_0/history_14 (01.07.2021); J. Norman. “Darwin & Wallace Issue the First Printed Exposition of the Theory of Evolution by Natural Selection”. History of Information, 25.11.2014. https://www.historyofinformation.com/detail.php?id=1655 (01.07.2021); Darwin Correspondence Project, 2020. https://www.darwinproject.ac.uk (01.07.2021); Alexandra Stober. “Charles Darwin: Revolutionär und Gentleman”. Planet Wissen, 02.06.2020. https://www.planet-wissen.de/natur/forschung/evolutionsforschung/pwiecharlesdarwinrevolutionaerundgentleman100.html (01.07.2021). Für eine eingehende historische Darstellung, siehe James T. Costa. Wallace, Darwin, and the Origin of Species. Cambridge: Harvard University Press, 2014, http://www.jstor.org/stable/j.ctt6wprf8 (22.06.2021).↩
- Ernst Haeckel. Generelle Morphologie der Organismen: Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von C. Darwin reformirte Decendenz-Theorie. Berlin: 1866.↩
- Siehe Chia-Yi Hou. “Modern Synthesis, 1937”. The Scientist, 01.09.2019. https://www.the-scientist.com/foundations/modern-synthesis-1937-66322 (01.07.2021). Siehe außerdem Ernst Mayr und William B. Provine. The Evolutionary Synthesis. Cambridge: Harvard University Press, 2013. https://doi.org/10.4159/harvard.9780674865389. Eine abweichende historische Interpretation findet sich in Maurizio Esposito. “Utopianism in the British Evolutionary Synthesis”. Studies in History and Philosophy of Science Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 42, Nr. 1 (2011): 40-49. https://doi.org/10.1016/j.shpsc.2010.11.007. Zu den anhaltenden Bemühungen, diese These zu überarbeiten und erweitern, siehe Tim Lewens. “The Extended Evolutionary Synthesis: “What is the Debate About, and What Might Success for the Extenders Look Like?” Biological Journal of the Linnean Society 127, Nr. 4 (2019): 707-721. https://doi.org/10.1093/biolinnean/blz064.↩
- Siehe “An Introduction to Cladistics”. 1996, https://ucmp.berkeley.edu/clad/clad1.html (01.07.2021); Q. Wheeler, L. Assis und O. Rieppel. “Heed the Father of Cladistics”. Nature 496 (2013): 295-296. https://doi.org/10.1038/496295a.↩
- Zur Bedeutung von Datenbanken, Digitalisierung und Daten siehe Welt(en) verzeichnen. Oder siehe Sabina Leonelli und Niccolò Tempini. Data Journeys in the Sciences. Cham: Springer, 2020. https://doi.org/10.1007/978-3-030-37177-7.↩
- Ein Beispiel für die Digitalisierung taxonomischen Fachwissens ist die NSB Datenbank.↩
- Nachzulesen in weiteren Storys auf dieser Website, siehe Auf verschwommenen Pfaden, Cycladophora davisiana oder auch Zoologische Lehrsammlung.↩
- Ein anschauliches Beispiel, um die komplexe Dynamik zwischen taxonomischen Ordnungen und realen Konsequenzen zu verstehen, ist die Rolle von Zoos und Museen in den Naturschutzwissenschaften. Datenbanken und Listen wie ZIMS tragen zur Ausrichtung von Schutzmaßnahmen entlang bestimmter taxonomischer Ordnungen bei und bestimmen damit, wer auf unserem Planeten überleben darf.↩