Die Tiefengeschichte und Dynamik unseres Planeten zu verstehen, ist keine leichte Aufgabe: Die Erde entzieht sich unseren Versuchen, sie zu visualisieren und zu charakterisieren. Sie übersteigt unser begrenztes Verständnis und sprengt die Maßstäbe, an die wir gewöhnt sind. Dennoch haben Menschen seit jeher versucht, ihren Platz im Universum und die Funktionsweise des Planeten zu ergründen. Aber erst in jüngster Zeit haben Wissenschaftler:innen begonnen, den Planeten und seine Komplexität theoretisch (und mit ihren verschiedenen Werkzeugen) zu erfassen. Die Erfahrungen der marinen Mikropaläontologie waren dabei von entscheidender Bedeutung, da sie dazu beitrugen, den Einfluss biologischer Prozesse auf das System Erde aufzudecken. Das vorherrschende Modell der disziplinären Aufteilung in verschiedene Wissenschaften, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verfestigte, trennte traditionell die harten geophysikalischen und chemischen Wissenschaften und ihre technowissenschaftlichen Anwendungen von den weicheren Wissenschaften des Lebens. Die Erde wurde als Kulisse behandelt, vor der sich das Leben abspielt. Auch wenn Studien zu mikrobiellen Welten, wie die von Sergei Winogradsky und Vasily Dokuchaev über Umweltmikrobiologie und Böden, alternative Visionen boten, blieben sie marginal, nicht zuletzt aufgrund intellektueller und gesellschaftspolitischer Spaltungen.2 Trotz dieser Marginalisierung hatte die Erforschung der Beziehung zwischen biologischen und geochemischen Prozessen einen großen Einfluss auf die erfolgreiche Verbreitung der frühen Systemtheorien in der Biologie und darüber hinaus. Solche Ansätze erwiesen sich für neue Technologien als besonders nützlich und sie wurden sogleich in der Kybernetik in der Kriegszeit eingesetzt (berühmt ist z.B. die Entwicklung von Luftabwehrtechnologien).3 In der Nachkriegszeit gewann die Verbindung zwischen biologischen und geologischen Systemen noch mehr Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung. Das hybride Forschungsfeld der Biogeochemie begann, die traditionelle Kluft zwischen den geophysikalischen Wissenschaften und der Biologie zu überbrücken. Außerdem verdankt die Ökologie der Biogeochemie ihr grundsätzliches Verständnis über die komplexen Relationen, die den Planeten prägen.4
Zunächst beschränkte sich die meiste Forschung in der Ökologie auf klar abgesteckte Gebiete, wie z.B. die Untersuchungen von George Evelyn Hutchinson am Linsley Pond zeigen.5 Das ist auch der Grund warum die Ozeanografie, die als ‘große Wissenschaft’ galt, sich mit ihrem Blick für das globale Ausmaß als ein unglaublich erfolgreiches Feld für biogeochemische Fragen erwies. In Verbindung mit der Nachkriegswissenschaft und ihrer Faszination für den Weltraum ermöglichte die Erforschung der Weltmeere der Biogeochemie Forschungsmöglichkeiten von globalem Ausmaß.6 Tiefseebohrungen brachten eine wachsende Zahl von Daten hervor, die in Museen und anderen wissenschaftlichen Sammlungen wie der Lamont-Doherty-Sammlung aufbewahrt werden. Diese Forschung trug nicht nur zu mineralogischen und geophysikalischen Sammlungen bei,7 sondern unterstrichen vor allem die zentrale Bedeutung des mikrobiellen Lebens für die Bewohnbarkeit des Planeten Erde. In Verbindung mit den Fortschritten im Bereich der mikroskopischen Medien und unserem wachsenden Verständnis von den molekularen Funktionsweisen des Lebens führte diese Forschung zu zwei grundlegenden Aussagen: Erstens, dass Mikroorganismen als die Vorfahren allen Lebens auf unserem Planeten betrachtet werden sollten, und zweitens, dass sie die geochemischen Zyklen, von denen das Leben abhängt, bestimmen und vermitteln. Als solche sind sie ein wichtiger Indikator für die sich verändernden Bedingungen auf unserem Planeten. Dies war beispielsweise die Grundlage für Hays, Imbries und Shackletons bahnbrechenden Artikel im Journal Science im Jahr 1976, in dem sie die Auswirkungen der planetarischen Dynamik auf die Eiszeitzyklen durch die Verwendung von Cycladophora als Biomarker für Paläo-Temperaturen nachwiesen.8
In den 1970er Jahren mündeten die Erkenntnisse über Mikroorganismen als Vorläufer allen Lebens in die Formulierung der umstrittenen Gaia-Hypothese des NASA-Wissenschaftlers James Lovelock. Die Hypothese besagt, dass lebende Organismen mit anorganischen physikalisch-chemischen Planetensystemen interagieren, um ein integriertes, sich selbst regulierendes System zu bilden, das die Bedingungen für die Bewohnbarkeit der Erde aufrechterhält.9 Die Rolle von Mikroorganismen in diesem System wurde insbesondere durch Lovelocks Zusammenarbeit mit der Mikrobiologin Lynn Margulis hervorgehoben, die für ihren bahnbrechenden Vorschlag bekannt ist, dass sich Zellen durch Endosymbiose entwickelt haben.10 Während einige Kritiker:innen Gaia als eine esoterische Personifizierung des Planeten betrachten, wies Margulis darauf hin, dass der selbstregulierende Charakter des Systems letztlich eher als etwas im Entwicklungsprozess zu verstehen sei, verursacht durch die Interaktionen zwischen Organismen auf dem gesamten Planeten. So gewann die Gaia-Hypothese viel Unterstützung, auch dank ihrer Popularität in der Gegenkulturbewegung. Offiziellere wissenschaftliche Kreise blieben jedoch skeptisch, zum Teil wegen des unkonventionellen Charakters von Lovelock und Margulis, aber auch wegen des Erfolgs, den die Hypothese bei gegenkulturellen Bewegungen hatte.11 Seit den 1970er Jahren häufen sich jedoch die Hinweise auf die planetarischen Auswirkungen des mikrobiellen Lebens. Ein wichtiges Beispiel ist die Charakterisierung dessen, was gemeinhin als Große Sauerstoffkatastrophe bekannt ist. Dies bezieht sich auf eine wesentliche Phase in der biogeochemischen Geschichte des Planeten, in der es zu einem Wechsel von einer sauerstoffarmen zu einer sauerstoffreichen Atmosphäre kam. Ohne dieses Ereignis wäre das Leben, wie wir es kennen, nicht möglich gewesen. Auch wenn Wissenschaftler:innen noch immer darüber streiten, wie genau diese Verschiebung stattfand, steht fest, dass Mikroorganismen – insbesondere Cyanobakterien, auch bekannt als Blaualgen – eine Schlüsselrolle dabei spielten und die Zusammensetzung der Atmosphäre unseres Planeten radikal veränderten. Noch heute wird der größte Teil des Sauerstoffs in unserer Atmosphäre von photosynthetischen Mikroorganismen produziert, die im Meer leben, wie z.B. Kieselalgen.12
Die Geschichte, wie wir allmählich die Bedeutung des mikrobiellen Lebens für unseren Planeten und seine Dynamik erkannt haben, ist also noch nicht abgeschlossen. Mikroben – und ihre tiefgreifende Evolutionsgeschichte – sind mit dem Gefüge unseres Planeten verwoben und für den anhaltenden Erfolg des Lebens auf der Erde von entscheidender Bedeutung. Auch wenn Mikroben für unser Verständnis der Welt oft nur am Rande eine Rolle spielen, zeigt ihre planetarische Geschichte, dass sie weiterhin ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens sind.
Eine von der NASA veröffentlichte Animation veranschaulicht den Kreislauf der Primärproduktion und die damit verbundenen biochemischen Prozesse. (Quelle: Carbon Brief/YouTube)
- Siehe James D. Hays, John Imbrie und Nicholas J. Shackleton. “Variations in the Earth’s Orbit: Pacemaker of the Ice Ages”. Science 194 (1976): 1121-1132. https://doi.org/10.1126/science.194.4270.1121.↩
- Während die Arbeit dieser Wissenschaftler zu ihrer Lebzeit marginal blieb – u.a. aufgrund sprachlicher, intellektueller und später sogar ideologischer Barrieren –, wird ihr Einfluss auf die späteren Entwicklungen der Technowissenschaften allmählich anerkannt. Zu Winogradsky: Frederick Attenborough. “The Monad and the Nomad: Medical Microbiology and the Politics and Possibilities of the Mobile Microbe”. Cultural Geographies 18, no. 1 (2011): 91-114; für weitere Details zu Dokuchaev, siehe: Filippo Bertoni. “Soiling Mars: ‘To Boldly Grow Where No Plant Has Grown Before’?” In Thinking with Soils: Material Politics and Social Theory, Juan Francisco Salazar et al. (Hg.). London: Bloomsbury Publishing (2020): 107.↩
- Zu den Auswirkungen der Kybernetik: Andrew Pickering. The Cybernetic Brain. Chicago: University of Chicago Press, 2010; oder “Sketches of Another Future: An Interview with Andrew Pickering”. Sistemas Sociales, YouTube, 24.03.2014. https://www.youtube.com/watch?v=juGIXi6Lyek (03.01.2022).↩
- Zur Geschichte der Biogeochemie: T.S. Bianchi. “The Evolution of Biogeochemistry: Revisited”. Biogeochemistry 154, (2021): 141-181. https://doi.org/10.1007/s10533-020-00708-0↩
- George Evelyn Hutchinson, der als einer der Begründer der Ökologie gilt, führte einige wichtige Experimente an einem kleinen See namens “Linsley Pond” durch, siehe: Carl Zimmer. “The Human Lake”. National Geographic Online, 31.03.2011. https://www.nationalgeographic.com/science/article/the-human-lake (03.01.2022); und Laura J. Martin. “G. Evelyn Hutchinson’s Exultation in Natural History”. American Scientist, 2016. https://www.americanscientist.org/article/g-evelyn-hutchinsons-exultation-in-natural-history (03.01.2022).↩
- Zur tiefgreifenden Beziehungen zwischen dem Weltraum und dem globalen Ozean, die noch immer die aktuellen Technowissenschaften beeinflussen: Stefan Helmreich. Alien Ocean. Oakland: University of California Press, 2009.↩
- Einige dieser bedeutenden Sammlungen sind beispielsweise Teil der mineralogischen Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin und werden in dessen geochemischen und mikroanalytischen Labors untersucht, siehe: “Geochemical and Microanalytical Laboratories”. Museum für Naturkunde Berlin, kein Datum. https://www.museumfuernaturkunde.berlin/en/science/geochemical-and-microanalytical-laboratories (03.01.2022); und “Rock and Ore Collection”. Museum für Naturkunde Berlin, kein Datum. https://www.museumfuernaturkunde.berlin/en/science/rock-and-ore-collection (03.01.2022).↩
- Zur Geschichte dieses Meilenstein-Artikels und seiner Autoren, siehe Mark Maslin. “Tying Celestial Mechanics to Earth’s Ice Atorges”. Physics Today 73, no. 5, 48 (2020). https://physicstoday.scitation.org/doi/10.1063/PT.3.4474 (03.01.2022); und Stacy Morford. “John Imbrie: A Pioneer of Paleoceanography”. State of the Planet, Columbia Climate School, 19.05.2016, https://news.climate.columbia.edu/2016/05/19/john-imbrie-a-pioneer-of-paleoceanography/ (03.01.2022).↩
- Zur Gaia-Hypothese: Tim Radford. “James Lovelock at 100: The Gaia Saga Continues”. Nature 570 (25.06.2019): 441-442. https://www.nature.com/articles/d41586-019-01969-y (03.01.2022); “Gaia Hypothesis – James Lovelock”. Naked Science, YouTube, 21.05.2014. https://www.youtube.com/watch?v=GIFRg2skuDI (03.01.2022).↩
- Zu Lynn Margulis: J. Lake. “Lynn Margulis (1938-2011)”. Nature 480 (2011): 458. https://doi.org/10.1038/480458a. Fore more on Margulis’ view of Gaia, see “Gaia is a Though Bitch”. Edge, 05.01.1996. https://www.edge.org/conversation/lynn_margulis-chapter-7-gaia-is-a-tough-bitch. (03.01.2022).↩
- Um ein besseres Gefühl für diese Dynamiken zu bekommen, siehe: Elizabeth Royte. “Attack of the Microbiologists”. New York Times Magazine, 14.01.1996. https://www.nytimes.com/1996/01/14/magazine/attack-of-the-microbiologists.html (03.01.2022).↩
- Kieselalgen werden auch in dem Video über Lamont-Doherty-Sammlung gezeigt.↩