Im Zuge meiner Nachforschungen über Mikrofossilien wie Cycladophora davisiana in den Sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin fiel mir auf, dass sie alle anderen Objekte zahlenmäßig bei weitem übertreffen. Ein Grund dafür ist der aufschlussreiche, umfangreiche und leicht zugängliche Fossilbericht, den diese fossilisierten Mikroorganismen liefern, und der von so vielen Forschenden als unverzichtbares Werkzeug in der Biostratigrafie zur Entschlüsselung von mikropaläontologischen Formationen genutzt wird. In dieser Funktion sind Mikroorganismen wie Radiolarien und Foraminiferen Teil einer viel größeren Infrastruktur des Sammelns, die sich weit über die Mauern des Museums hinaus erstreckt. Dazu gehören langfristige transnationale Tiefseebohrprojekte, die Bohrkerne aus Meeressedimenten entnehmen und für die Analyse erdgeschichtlicher Dynamiken nutzbar machen. Dank der taxonomischen Expertise seiner Mikropaläontolog:innen und seiner eigenen Dateninfrastruktur hat das Museum für Naturkunde Berlin seine Rolle als Standort für das Management der Sammlungen und Datensätze, die kontinuierlich vom Meeresboden geborgen werden, über die vergangenen Jahrzehnte ausbauen können. Für ein besseres Verständnis dieser Funktion des Museums innerhalb des globalen wissenschaftlich-technischen Projekts ist es erhellend, einen Blick auf die Geschichte der Tiefseebohrung zu werfen.
Interessanterweise kam die Inspiration für die Entwicklung von Techniken und Verfahren zur Erkundung des Meeresgrunds größtenteils aus der Weltraumforschung. Im Jahr 1957 schickte die Sowjetunion erfolgreich den ersten Satelliten Sputnik ins Weltall. In der Folge erwuchs daraus zwischen den Großmächten des Kalten Kriegs jene wissenschaftlich-technische, politische und ideologische Konkurrenz um die technologische Vorherrschaft bei der Weltraumerkundung, auch als Wettlauf ins All bezeichnet wird. Ein ähnlicher Wettlauf sollte sich schon bald in Richtung Tiefsee entwickeln, was großen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Technikwissenschaften hatte. Frühe Erkundungen des Meeresbodens hatte es bereits im 19. Jahrhundert gegeben, insbesondere im Zusammenhang mit der unterseeischen Verlegung von Telegrafenleitungen. Dies hatte unter anderem zur Entdeckung von Cycladophora geführt. Die Kombination aus soziotechnischen Neuerungen, die sich aus der engen Verquickung von Technikwissenschaften und der Kriegsindustrie während der beiden Weltkriege ergaben, und dem Aufkommen von ‘Big Science’, machte den Meeresboden fortan zum Ziel noch weitaus ambitionierterer Forschungsvorhaben. Neuartige und kostspielige Geräte und Verfahren eröffneten den Blick auf die Böden der Tiefsee als reichhaltige lebende Lagerstätte von – wirtschaftlich wie wissenschaftlich lukrativen – Ressourcen und Daten. Mithilfe von Bohrungen und Entnahmen von Bohrkernen aus den Meeressedimenten sowie der Identifizierung und Verknüpfung der verschiedenen Mikrofossilberichte machten sich Wissenschaftler:innen daran, das Erdinnere zu kartografieren. Dieses langfristige Unterfangen führte zu einem wichtigen Projekt, aus dem sich wiederum eine ganze Reihe von Tiefseebohrprojekten ergaben, die bis heute fortgeführt werden – und die Entwicklung der marinen Mikropaläontologie einläuteten. Der Name des Projekts war Mohole, ein ambitioniertes Programm zur Durchdringung der Tiefen der Erdkruste durch Bohrungen und Probenentnahmen aus der sogenannten Mohorovičić-Diskontinuität, üblicherweise als Moho bezeichnet – der Phasengrenze zwischen Erdkruste und Erdmantel.1
Originalfilm von Willard Bascom aus dem Jahr 1961, produziert unter Federführung der National Academy of Sciences. Der Film zeigt Phase 1 des Project Mohole, darunter Erkundungsfahrten, Bohrexperimente und umfangreiche Probebohrungen vor der (240km westlich der mexikanischen Halbinsel Baja California im Pazifik gelegenen) Insel Guadalupe. (Quelle: NASEM/YouTube)
Das Verdienst des Project Mohole war, dass es sowohl die Machbarkeit von Tiefseebohrungen bewies als auch deren wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen unterstrich. Die Durchführung solcher Bohrungen von Hochseeplattformen ohne feste Verankerung stellte eine technische Meisterleistung dar und bildete zusammen mit den erhobenen biostratigrafischen Daten die Grundlage für die Förderung von fossilen Brennstoffen durch die entstehende Offshore-Industrie – die das unablässige Verlangen der Gesellschaft nach diesen Ressourcen fortan durch die Ausweitung der Erschließungsaktivitäten auf die Tiefen der Ozeane zu stillen suchte.2 Auch wenn das Project Mohole 1966 aufgrund administrativen, finanziellen und politischen Missmanagements eingestellt wurde, sollten schon bald andere Projekte folgen, die rasch in Moholes Fußstapfen traten – deren Zielsetzung sich jedoch verlagerte: Das Hauptanliegen war nun nicht mehr das Vordringen in extreme Tiefen, sondern das Sammeln möglichst vieler Proben, um den Untergrund der Erde so umfassend wie möglich kartografieren zu können. In der Folge wurde 1964 die Organisation Joint Oceanographic Institutions for Deep Earth Sampling (JOIDES) gegründet, die die Arbeit der verschiedenen, teils konkurrierenden, ozeanischen Institutionen der USA – Miami, Woods Hole, Scripps sowie das Lamont-Doherty Earth Observatory – koordinieren sollte.3 Mit der Inbetriebnahme des Forschungsschiffs “Glomar Challenger” begann das JOIDES Deep Sea Drilling Project (DSDP) ab 1968 mit der Sammlung von Proben und Daten. Auf der Website des Projekts heißt es:
“Der Erfolg der ‘Glomar Challenger’ ließ nicht lange auf sich warten. Schon an der zweiten Bohrstelle im ersten Fahrtabschnitt (Leg 1 Site 2) offenbarten Kernproben aus dem in 1.067m Tiefe befindlichen Meeresboden das Vorhandensein von Salzstöcken. Unter der Bedingung, ihre Analysen zu veröffentlichen, erhielten auch Ölfirmen Zugang zu einem Teil des Probenmaterials. Die Erkundung der Böden der Tiefsee wird heutzutage wesentlich durch die wirtschaftlich motivierte Hoffnung auf Ölvorkommen unterhalb von unterseeischen Salzstöcken vorangetrieben. Die ‘Glomar Challenger’ dagegen war ein wissenschaftliches Forschungsschiff. Eine der wichtigsten Entdeckungen wurde im Teilabschnitt 3 (Leg 3) gemacht. Hier bohrte die Crew insgesamt 17 Löcher an 10 verschiedenen Stellen entlang eines unterseeischen Gebirgskamms zwischen Südamerika und Afrika. Die entnommenen Bohrkernproben lieferten eindeutige Belege für die Kontinentalverschiebung und die Entstehung neuen Meeresbodens an den Bruchzonen. Diese Bestätigung von Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung untermauerte die Annahme einer einzigen, urzeitlichen Landmasse, auch als Pangäa bezeichnet. Die Proben lieferten überdies Belege für die Theorie der Plattentektonik, anhand derer zu jener Zeit die Entstehung von Gebirgsketten, Erdbeben und Tiefseegräben zu erklären versucht wurde.”4
Als JOIDES mit den Jahren immer größer wurde, konnten immer mehr Länder für eine Zusammenarbeit gewonnen werden, darunter die Bundesrepublik Deutschland, Japan, das Vereinigte Königreich, die Sowjetunion und Frankreich, wodurch aus einem ursprünglich US-amerikanischen Tiefseebohrprojekt ein großangelegtes internationales Gemeinschaftsprojekt wurde. Im Jahr 1985 wurde das DSDP umorganisiert und in Ocean Drilling Program (ODP) umbenannt, woraufhin die Probenentnahme, Kartografierung und Erkundung der Böden der Tiefsee mit einem neuen Forschungsschiff, der JOIDES Resolution, fortgesetzt wurden.5 Seither ist die internationale Zusammenarbeit bei der Tiefseebohrung zwei weitere Male umstrukturiert worden: Die Federführung übernahm ab 2003 zunächst das Integrated Ocean Drilling Program (IODP), das wiederum 2013 vom International Ocean Discovery Program (IODP) abgelöst wurde.
In über 50 Jahren der Tiefseebohrung ist die Menge an gesammelten Proben und Daten exponentiell gewachsen. Diese Gemeinschaftsleistung hat einerseits eine Vielzahl an Sammlungen, Publikationen, Archiven und Datensätzen hervorgebracht und zu einem radikalen Wandel in unserem Verständnis von Erdsystemen geführt, und andererseits neue Formen und Konzepte internationaler wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit ermöglicht.
Verteilt über viele verschiedene Institutionen und Datenbanken, sind einige der durch diese transnationalen Bemühungen gewonnenen Daten und Proben auch in das Museum für Naturkunde Berlin gelangt. Genauer gesagt, haben der mikropaläontologische Kurator des Museums, David Lazarus, sowie sein Kollege Johan Renaudie6 entscheidend zum Aufbau einer der wichtigsten aus diesen Projekten hervorgegangenen Datenbanken beigetragen: der NSB Datenbank. Zusammen mit der kürzlich übernommenen Lamont-Doherty-Sammlung von Präparaten sind die mikropaläontologischen Sammlungen des Museums für Naturkunde Berlin weit mehr als nur eine Zusammenstellung der Ergebnisse von Tiefseebohrungen; der in ihnen enthaltene Mikrofossilbericht und die aus ihm gewonnenen Daten liefern bis heute wesentliche Hinweise auf mikropaläontologische Formationen und die biogeochemischen Kreisläufe und Dynamiken der Erde. Indem sie eine immer weiter anwachsende Menge fossiler Mikroorganismen aus den Böden der Tiefsee bergen, identifizieren und anschließend in komplexe und wachsende Netzwerke aus Verzeichnissen, Sammlungen und Datensätzen einpflegen, verwandeln Mikropaläontolog:innen und viele andere durch ihre Arbeit die einst lebenden Organismen in wissenschaftliche Forschungsobjekte und Daten. Letztere können dann – als Teil des historisch eingebetteten wissenschaftlich-technischen Apparats zur Wissensproduktion – die Art und Weise verändern, wie wir die Natur verstehen, und eine bestimmte Sichtweise auf die Erdgeschichte und ihrer grundlegenden dynamischen Prozesse etablieren. Ebenso wie andere Aktivitäten zur Erfassung und Dokumentation der Welt(en) dienen Tiefseebohrungen und der damit verbundene wissensgenerierende Apparat nicht allein der Sammlung von Objekten und Proben. Die Bohrungen beeinflussen und transformieren diese vielmehr, so dass sie zu Objekten werden, die unsere Beziehung zur Natur bestimmen; die Körper der Tiere werden zur Grundlage unseres Verständnisses von unserem Planeten als Ganzem.
Die Erschließung entsprechender Daten, die uns Geschichten über Mikroben und Planeten erzählen können – zum Beispiel durch die Verwendung von Cycladophora für die Rekonstruktion dynamischer Kaltzeitzyklen – erfordert das reibungslose Funktionieren des gesamten soziotechnischen Apparats der Tiefseebohrung: Dieser umfasst Bohrschiffe, Forschungsinstitutionen, transnationale Förderprogramme und Kooperationen, Archive und Datenbanken, aber auch Wissenschaftler:innen, Ingenieur:innen, Techniker:innen, Schiffscrews und viele andere Mitwirkende. Letztendlich hängt der Apparat von der Verwandlung ab, die Tiere und andere Organismen zu Wissensobjekten macht: Naturkundliche Sammlungen sind somit keineswegs bloß alte, spezialisierte, fachwissenschaftliche Archive, sondern bilden eine maßgebliche Grundlage für das gesellschaftliche Wissen über und Verhältnis zur Natur. Wie dieser kurze Abriss der Geschichte der Tiefseebohrung veranschaulicht, macht die Art, wie wir die Welt erforschen, einen Unterschied, da sie zugleich das Spektrum der erwartbaren Erkenntnisse festlegt, also was überhaupt erforscht werden kann: Während die Untersuchung und Analyse dynamischer Erdsysteme die Gefahren des Klimawandels offenbart haben, bilden sie zugleich die Grundlage der Rohstoffindustrie, deren Aktivitäten und Produkte solch gravierende Auswirkungen auf die biogeochemischen Kreisläufe unseres Planeten haben. Dies sollte uns jedoch keineswegs entmutigen, die Natur und ihre vielfältigen Vorgänge besser zu verstehen. Stattdessen soll uns diese Geschichte daran erinnern, wie wichtig die politische Gestaltung des Feldes der Wissensproduktion ist: Ein größeres Bewusstsein dafür, wie wir die Welt erforschen und verstehen, und für die konkreten materiellen und konzeptionellen Neuerungen, die unsere wissensgenerierende Praxis begleiten und formen, kann uns dabei helfen, bessere Fragen zu stellen und zu Einsichten von größtmöglichem gesellschaftlichem Nutzen – d.h. für unser aller bestmögliches Zusammenleben – zu gelangen.
- Um mehr über die Geschichte des Project Mohole zu erfahren, siehe das multimediale Angebot unter https://www.vox.com/unexplainable/22276597/project-mohole-deep-ocean-drilling-unexplainable-podcast; oder siehe Helen M. Rozwadowski und David K. van Keuren (Hg.). The Machine in Neptune’s Garden: Historical Perspectives on Technology and the Marine Environment. Canton, Mass.: Science History Publications, 2004. Für eine allgemeine Übersicht über die Geschichte der Ozeanografie, siehe https://oceansciencehistory.com/page/2/.↩
- Bezeichnenderweise wurde das Schiff, das während der Phase 1 des Project Mohole im Einsatz war, von einem Konsortium aus Ölfirmen bereitgestellt, was sich in seinem Namen widerspiegelte: CUSS I, was für Continental, Union, Superior und Shell Oil stand.↩
- Das Lamont-Doherty Earth Observatory befasst sich seit 1949 mit der Sammlung von Bohrkernen und hat mittlerweile einen beachtlichen Bestand angehäuft. Dieses Probenmaterial bildet die Grundlage der Sammlung mikropaläontologischer Objektträger, die in der Lamont-Doherty-Sammlung beschrieben ist.↩
- Siehe http://www.deepseadrilling.org/about.htm.↩
- Hier geht es zur virtuellen Besichtigung des Schiffs, das auch heute noch in Betrieb ist: https://joidesresolution.org/about-the-jr/jr-vessel-tour/.↩
- Johan Renaudies Bericht über seine jüngste Reise an Bord der JOIDES Resolution findet sich hier: https://www.museumfuernaturkunde.berlin/en/about/news/scientist-mfn-board-iodp-expedition-379-amundsen-sea-west-antarctic-research-drill-ship.↩