Cycladophora davisiana

Story Eine mikroskopisch kleine Radiolarienart

Mikroskopische Aufnahme einer konischen Form mit unregelmäßigem geometrischen Oberflächenmuster. Text: Radiolaria.org, Cenozoic, Holocene (Recent), Sea of Japan. List species, Cycladophora davisiana, Ehrenberg 1862. Shell conical-campanulate, of moderately heavy structure, consisting of two, three or four segments. Cephalis subglobose, with small, sparse pores, and bearing two short, acicular spines – one vertical, approximately apical, and the other lateral, oblique. Collar stricture slight. Subsequent part of shell, comprising its main bulk, will be termed the thorax, though in some specimens it appears to be divided by an ill-defined internal transverse ridge into an upper and a lower (...)

Ein Screenshot aus der digitalen Radiolarien-Datenbank radiolaria.org, der die charakteristischen Merkmale von C. davisiana zeigt und beschreibt.1

Im Gegensatz zu “Bobby”, “Knut” und den anderen charismatischen Tieren, zoologischen Präparaten und Organismen, die im Museum für Naturkunde Berlin, im Berliner Zoo und auf dieser Seite präsentiert werden, hat Cycladophora davisiana keinen populären Eigennamen, sondern firmiert nur unter diesem wissenschaftlichen Überbegriff, der für die gesamte Art gilt. Für mikroskopisch kleine Organismen, deren winzige Größe und kurze Generationsintervalle es praktisch unmöglich machen, sie einzeln zu erkennen, ist das üblich. Mikroben sind für uns in der Regel ein kaum erkennbares, undefiniertes Gewimmel, in dem wir nur durch mediale Vermittlung wie Mikroskope Unterschiede ausmachen können – und selbst dann fällt es uns schwer, sie über die Art oder die Unterart hinaus zu bestimmen. Bei der Betrachtung unter dem Mikroskop zeigt C. davisiana jedoch übereinstimmende Merkmale, sodass Expert:innen diese Art mithilfe von aktuellen taxonomischen Ordnungen von ähnlichen Mikroorganismen unterscheiden können. C. davisiana ist also kein Individuum, sondern eine generische Definition einer Art, eines Kollektivs. Genauer gesagt handelt es sich um eine Art von Radiolarien, eine Gruppe einzelliger Mikroorganismen, die seit mehr als 500 Millionen Jahren in den Weltmeeren leben. Die spezifische Art (C. davisiana) gibt es aber erst seit 13 Millionen Jahren. Radiolarienkörper werden von einem schalenähnlichen, kieselhaltigen Innenskelett getragen: Da dieses als in Sedimenten eingebettete Mikrofossilien erhalten bleibt, ist die Untersuchung von Radiolarien und ähnlicher Mikroorganismen wie Foraminiferen zu einem wichtigen Bestandteil der wissenschaftlichen Erforschung von mikropaläontologischen Formationen geworden. Durch die Analyse ihrer Veränderungen über lange geologische Zeiträume können Wissenschaftler:innen Erkenntnisse über die Vergangenheit unseres Planeten und seine biogeochemischen und klimatischen Veränderungsprozesse gewinnen.2

Als mikroskopisch kleiner Einzeller ist Cycladophora davisiana nicht wirklich ein Tier: Die Komplexität der mikrobiellen Welten führt uns vor Augen, dass die Gesamtheit jener Lebewesen, die wir üblicherweise als ‘Tiere’ bezeichnen, tatsächlich nur einen kleinen und noch dazu relativ jungen Anteil der lebenden Organismen auf unserem Planeten umfasst. Den größten Teil der Artenvielfalt auf der Erde machen Mikroben aus, die eine prägende Rolle in der Evolutionsgeschichte des Lebens spielten und auch heute noch lebenswichtiger Bestandteil unserer Ökosysteme sind. Obwohl Cycladophora also nicht als Tier gilt, nimmt der Mikroorganismus daher gleichwohl einen besonderen Platz in der Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin ein. Trotz seiner geringen Größe lehrt uns C. davisiana viel über die Natur und darüber, wie wir sie verstehen; aber auch, was es bedeutet, ‘Tiere als Objekte’ zu begreifen und zu sammeln. Die Geschichte der Erforschung dieser Art stellt nicht nur unsere Annahmen darüber infrage, was wir unter Tieren verstehen, sondern veranschaulicht zugleich die konkrete, mehrfache Formatierung, die dieser Mikroorganismus erfahren und durchlaufen hat – und auch weiterhin durchläuft –, um zu einem Objekt wissenschaftlicher Forschung zu werden. Aus C. davisiana, einst ein unscheinbares Etwas am Meeresgrund, wurde zunächst ein Fossilpräparat in der Ehrenberg-Sammlung und in der Folge die Grundlage einer universell gültigen taxonomischen Beschreibung einer Art, die sich bis heute als Referenz in wissenschaftlichen Publikationen und Datenbanken findet. Die Datenbanken wiederum verweisen auf das ursprüngliche Exemplar im Museum für Naturkunde Berlin und dessen Geschichte.

Dem wissenschaftlichen (Nach-)Leben dieses Mikroorganismus folgend, lädt diese Webseite zur Erkundung dieser Wandlungen sowie der heutigen Rolle von Cycladophora für unser Verständnis der Natur ein. Angefangen mit der Suche nach Cycladophora 1859 bis hin zu den frühen Bemühungen um die Klassifizierung von Cycladophora in Berlin und anderswo, waren die vorausgegangenen Entwicklungen der Naturkunde des 19. Jahrhunderts ausschlaggebend für die Einordnung dieses Mikroorganismus in die zu jener Zeit entstehenden taxonomischen Ordnungen. Bis heute liefern sie die Definitionen, auf deren Grundlage wir die Natur verstehen. Indem renommierte Naturforscher3 wie Christian Gottfried Ehrenberg und Ernst Haeckel Cycladophora und tausende weitere Organismen beobachteten, beschrieben und klassifizierten, halfen sie, die Basis für die Systematik in der modernen Biologie zu legen. Nachdem diese Grundlage geschaffen war, verbreitete sich der Mikroorganismus über die ganze Welt, da sein Name und seine Klassifizierung Wissenschaftler:innen nun ermöglichte, C. davisiana zu erkennen, zurückzuverfolgen und für ihre Untersuchungen zu nutzen. Doch bereits Ende der 1880er Jahre schienen Wissenschaftler:innen das Interesse an Cycladophora und anderen Radiolarien schon wieder zu verlieren: Mikroorganismen wurden als primitive Formen angesehen, die über relativ lange geologische Zeiträume unverändert blieben. Abgesehen von ihrer schönen Gestalt schienen sie wenig interessant. Dies führte den Mikroorganismus mindestens bis in die 1950er Jahre in eine scheinbare Sackgasse.

Während die industrielle Mikropaläontologie bereits in den 1920er Jahren erfolgreich damit begonnen hatte, bei der Suche nach fossilen Brennstoffen Foraminiferen zur stratigrafischen Analyse geologischer Formationen einzusetzen, galten Radiolarien immer noch als sich langsam entwickelnd und daher unbrauchbar für die Biostratigrafie, also die Datierung geologischer Formationen mithilfe von Fossilien. Das galt zumindest bis 1951 als William Rex Riedel, ein australischer Mikropaläontologe, Haeckels geologischen Befund der berühmten ozeanografischen Expedition der HMS Challenger neu bewertete. Seine Neuinterpretation zeigte, dass die fossilen Spuren von Radiolarienarten wie Cycladophora viele nützliche und überraschende Informationen beinhalten. Zu diesem Zeitpunkt war die Ehrenberg-Sammlung jedoch in Vergessenheit geraten und man ging davon aus, dass sie im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen sei. Doch obwohl sie – wie sich später herausstellte – noch existierte, wäre es für Riedel aufgrund der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs schwierig gewesen, Zugang dazu zu bekommen. Trotz des erschwerten Zugangs zum Typusexemplar setzte C. davisiana ihr wissenschaftliches (Nach)Leben fort, da Wissenschaftler:innen andere Möglichkeiten fanden, Cycladophora zu nutzen, wenngleich die taxonomische Geschichte der Art vage blieb. Während dieser Phase erlangte die Radiolarienart schließlich wissenschaftliche Berühmtheit. Der Erfolg der marinen Mikropaläontologie, der sich ab den 1960er Jahren insbesondere in den internationalen Bemühungen um Tiefseebohrungen niederschlug, führte zu einem wachsenden Bestand globaler mikropaläontologischer Daten. Diese Datensätze enthielten auch eine umfangreiche Dokumentation des (Nicht-)Vorkommens von Cycladophora über einen langen geologischen Zeitraum, was Rückschlüsse auf den Einfluss dynamischer orbitaler Fluktuationen der Erde auf Eiszeitzyklen zulässt. Basierend auf diesen und anderen Geschichten über Mikroben und Planeten, entstand ein komplexes Geflecht aus Daten, Sensoren und Computermodellen, das unser Verständnis vom Klima und von Planetensystemen weiterhin prägt.

In den 1990er Jahren stand die Ehrenberg-Sammlung westlichen Forschenden aufgrund der deutschen Wiedervereinigung wieder zur Verfügung und das Naturkundemuseum im ehemaligen Ost-Berlin wurde erneut zu einem wichtigen internationalen Zentrum der Mikropaläontologie, vereinte es doch die Anfänge der Disziplin mit der gegenwärtigen Forschung auf diesem Gebiet unter einem Dach. Dies veranschaulicht beispielsweise die NSB Datenbank des Museums für Naturkunde, die die großen Sammlungen mikropaläontologischer Daten aus verschiedenen Tiefseebohrungen seit den 1960er Jahren enthält. Dank dieser Datenbank können Cycladophora davisiana und viele andere mikrofossile Arten den Wissenschaftler:innen auch weiterhin dabei helfen, die globalen und lokalen Veränderungen zu verstehen, die unseren Planeten bis heute prägen. Dargestellt im Datenformat und verteilt über viele komplexe Datensätze, bezeichnet Cycladophora auch in der Datenbank weniger einen einzelnen Organismus, und manchmal nicht einmal ein und dasselbe Objekt. Vielmehr macht gerade ihr relationaler Charakter die Datensätzen für Wissenschaftler:innen besonders nützlich. Cycladophora davisiana bewegt sich zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Sammlungen, Klassifikationen und Datenbanken und geht Verbindungen mit anderen Objekten, Entitäten, Organismen ein, was wieder neue Fragen aufwirft. Der wissenschaftliche Name vereint unter wechselnden Ordnungen eine Vielzahl von Objekten – was die Frage nach ‘Tieren als Objekten?’ verkompliziert und eine eindeutige Antwort erschwert.


  1. Cycladophora davisiana Ehrenberg, 1862”. Radiolaria.org, ohne Datum, https://www.radiolaria.org/species.htm?division=13&sp_id=1 (03.01.2022).
  2. Alexander Matul. “The Recent and Quaternary Distribution of the Radiolarian Species Cycladophora davisiana: A Biostratigraphic and Paleoceanographic Tool”. Oceanology 51 (2011): 335-346. https://doi.org/10.1134/S0001437011020111.
  3. In der deutschen Übersetzung wird hier der maskuline Begriff verwendet, da er sich konkret auf zwei Männer bezieht. Allerdings gab es im 19. Jahrhundert auch einige bekannte Naturforscherinnen. Mehr über die Arbeit von Naturforscherinnen in Europa findet sich bei Barbara Mohr. “Women Popularizers and their Audience from the 18th to the 21st Century in Central Europe”. History of Science Konferenz. Prag, 2015. https://doi.org/10.13140/RG.2.1.1843.6087. Eine Übersicht zu Naturforscherinnen und ihren Rollen an deutschen Museen findet sich bei Mohr, Barbara. “Clara Ehrenberg: Werk und Bedeutung”. Ehrenberg-Tag Konferenz. Berlin, 2015. https://doi.org/10.13140/RG.2.1.1319.3208.
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