Im Museum für Naturkunde Berlin befindet sich das Präparat eines Pfeilschwanzkrebses in Alkohol mit der Inventarnummer ‘ZMB 48487’. Es gehört zu einer Reihe historischer Nasspräparate der Art Limulus polyphemus (Linnaeus, 1758).1 Diese Limulus-Präparate gehörten ursprünglich nicht zur Sammlung des Museums für Naturkunde. Sie haben eine lange Geschichte mit mehreren Ortswechseln hinter sich. Die Geschichte dieser Tiere und der ganzen Art zeigt beispielhaft, wie sich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten die Bedeutung und Verwendung von Tieren ebenso wie ihr epistemischer Status oder sogar ihre ganze Seinsweise verändert.
Vom Aquarium über die Lehrsammlung ins Museum: Provenienzgeschichten
Wenn die historischen Limulus-Präparate, die sich heute im Museum für Naturkunde Berlin befinden, ursprünglich nicht für dessen Sammlung bestimmt waren, woher stammen sie und was war ihr Zweck? Welche Wege haben sie im Laufe der Zeit zurückgelegt und was vermögen diese über die Sammlungsgeschichte auszusagen? Einen Hinweis auf ihre frühere Funktion liefern die Präparate selbst. Die Art der Zurichtung deutet darauf hin, dass es sich nicht um Objekte einer Forschungssammlung wie der des Museums handelt, sondern um Lehrobjekte. Zum einen wurden Präparate für die universitäre Lehre auf bestimmte Weise zugeschnitten oder bestanden aus isolierten Körperteilen, um verschiedene Funktionen oder Organe eines Tieres zu demonstrieren. In diesem Fall sind bei manchen der Tiere bestimmte Körperpartien wie etwa das Nervensystem freigelegt.
Bei anderen sind einzelne Organe extrahiert.
Einen weiteren Hinweis liefern Gebrauchsspuren. Materialschäden oder Drähte an manchen der Trockenpräparate deuten darauf hin, dass sie ausgestellt, aufgehängt oder in die Hand genommen wurden.
Tatsächlich stammen diese Präparate aus dem Zoologischen Institut, wie oben auf den Etiketten am Glas zu lesen ist. Dabei handelt es sich um ein ehemaliges Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, an dem seit seiner Gründung 1884 eine zoologische Lehrsammlung aufgebaut wurde.
Das Zoologische Institut ist nicht zu verwechseln mit der Sammlung des Zoologischen Museums, das den Grundstock der heutigen Sammlungen im Museum für Naturkunde Berlin bildete, wo die Präparate derzeit untergebracht sind. Zwar gehörten beide Einrichtungen zur Friedrich-Wilhelms-Universität, in deren Hauptgebäude sie zunächst untergebracht waren, bis sie 1888 bzw. 1889 in das neu erbaute Museumsgebäude in der Invalidenstraße einzogen. Sie agierten jedoch, wenn auch unter einem Dach, weitgehend unabhängig voneinander, da sich ihre Funktionen und Aufgaben und daher auch der Aufbau und Bestand ihrer Sammlungen deutlich voneinander unterschieden. Während das Zoologische Museum eine Forschungssammlung besaß, die wissenschaftlichen Zwecken diente, war das Zoologische Institut für die Ausbildung von Studierenden zuständig und hatte seine Lehrsammlung entsprechend ausgerichtet. Dass das Präparat mit freigelegtem Nervensystem zuerst Teil des Zoologischen Instituts war, belegt das Etikett, auf dem die Inventarnummer des Museums erst nachträglich notiert wurde. Wie kam das Limulus-Präparat mit freigelegtem Nervensystem in die Zoologische Lehrsammlung und von dort in die Forschungssammlung des Naturkundemuseums?
In der Lehrsammlung finden sich bereits in den ersten Katalogen aus dem späten 19. Jahrhundert Belege für die Anschaffung von Limulus-Präparaten. Zu dieser Zeit waren Pfeilschwanzkrebse in der Wissenschaft längst bekannt; Abbildungen und Beschreibungen sind schon aus dem 16. Jahrhundert belegt. Lange Zeit hatten Lehre und Forschung jedoch überwiegend tote Tiere in konserviertem Zustand zur Verfügung. So erwarb das Zoologische Institut laut den Inventarkatalogen Limulus-Präparate etwa von der Berliner Naturalienhandlung Linnaea und der Hamburger Firma J.F.G. Umlauff.2
Als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den englischen Küsten ausgehend die Aquarienhaltung in ganz Europa und kurz darauf in den USA verbreitete und im Zuge dessen ab den späten 1860er Jahren in vielen Städten öffentliche Aquarien gegründet wurden, wurden diese zu weiteren Bezugsquellen für zoologische Lehr- und Forschungssammlungen. Immer mehr Meerestiere, die nicht in europäischen Gewässern heimisch waren, wurden lebend importiert.3 Das gilt auch für Pfeilschwanzkrebse. Von den vier noch existierenden Arten leben drei in den indopazifischen Gewässern Südostasiens,4 während die Art Limulus polyphemus (Linnaeus, 1758) im westlichen Atlantik entlang der Ostküste von Nord- und Mittelamerika verbreitet ist. Die meisten Limuli in europäischen Aquarien stammen von der Ostküste der USA, insbesondere aus Delaware Bay in New Jersey.5 In Deutschland zeigten bereits Mitte der 1860er Jahre die Aquarienhäuser in Hamburg und Hannover Pfeilschwanzkrebse aus dieser Region,6 ebenso wie das Aquarium Unter den Linden in Berlin und ab 1913 das Aquarium im Berliner Zoo.7
Pfeilschwanzkrebse waren auch unter privaten Aquarianer:innen beliebt, die zum Wissen über die Lebensbedingungen und Haltung der Tiere beitrugen.
Von Aquarien aus wurden viele Tiere nach ihrem Tod an Sammlungen abgegeben und dadurch für wissenschaftliche Forschungs- und Lehrzwecke nutzbar gemacht, so auch für das Zoologische Museum und das Zoologische Institut in Berlin. Auf dem Etikett des Nasspräparats mit freigelegtem Nervensystem ist ‘Berliner Aquarium’ vermerkt.8 Nachdem also das Tier, das später zum Präparat ‘ZMB 48487’ werden sollte, vermutlich von der Küste bei New York ins Berliner Aquarium gelangte, wurde es nach seinem Tod in die Zoologische Lehrsammlung überstellt. Wann, wie und weshalb es von dort in die Forschungssammlung des Museums kam, ist nicht gesichert. Die Abgabe an das Museum könnte mit den historischen Wandlungen des Zoologieunterrichts zusammenhängen. Ob dies vor dem Zweiten Weltkrieg geschah oder danach, ist nicht klar. Möglicherweise wurden die Limulus-Präparate aber auch im Jahr 1970, als sich der damalige Sektionsleiter der Sammlung entschied, diese zu verkleinern, dem Museum (das damals ebenfalls noch Teil der Humboldt-Universität zu Berlin war) überlassen.9 Die genauen Gründe, weshalb die Lehrsammlung die Tiere ans Museum gab und dieses sie annahm, können (bislang) ebenfalls nicht endgültig geklärt werden. Jedenfalls hat sich mit dem Sammlungswechsel im Laufe der Zeit die Funktion der Präparate gewandelt. Während sie in der Lehrsammlung vermutlich aktiv in der Lehre eingesetzt wurden, um die Anatomie des Pfeilschwanzkrebses zu vermitteln, werden sie in der Museumssammlung heute vornehmlich als historische Präparate aufbewahrt.10 Diese wechselvolle Geschichte der Wandlungen vom Aquarientier zum Lehrpräparat und schließlich zum historischen Sammlungsobjekt ist teilweise noch sichtbar. Die verschiedenen Orte, die auf dem Etikett eingetragen sind, helfen heute, die Provenienz des Präparates ‘ZMB 48487’ zu rekonstruieren. Der (bislang) letzte Zusatz ist die ZMB-Nummer, die die Sammlungskurator:innen bei der Erstellung des Bestandskatalog vergeben.11 Meer, Aquarium, Lehr- und Forschungssammlung – all diese Räume werden (unter anderem) dazu genutzt, Wissen über Pfeilschwanzkrebse zu produzieren und zu vermitteln. Zu diesem Zweck werden die Tiere auf unterschiedliche Weise erforscht, zugerichtet, klassifiziert, so dass den Pfeilschwanzkrebsen ein je unterschiedlicher Status zukommt.12
Vom Krebs zur Spinne: Taxonomiegeschichten
Wer allerdings im Museum für Naturkunde Berlin die Präparate der Pfeilschwanzkrebse sucht, lässt sich womöglich von ihrem Namen auf eine falsche Fährte und in die falsche Sammlung locken. Das hängt mit der Geschichte der Art, genauer gesagt mit der Geschichte ihrer Erforschung zusammen. Nicht nur einzelne Präparate wie ‘ZMB 48487’ haben historische Orts- und Funktionswechsel durchgemacht, sondern die ganze Art Limulus polyphemus wechselte im 19. Jahrhundert ihren Ort innerhalb der taxonomischen Ordnung und, davon ausgehend, innerhalb der Sammlungsstruktur. Die Wissenschaft verändert somit den Blick auf Pfeilschwanzkrebse und das Wissen über sie, kurz: sie macht aus dem Tier ein anderes.
Bis ins 19. Jahrhundert gingen zoologische Studien davon aus, dass es sich bei den Limuli um Krebstiere handelt, vor allem weil sie im Meer leben, Kiemen besitzen und wie Krebse aussehen.13 Diese Annahme spiegelt sich in vielen der Namen, die dem Tier gegeben wurden: Pfeilschwanzkrebs, im Englischen horseshoe crab oder früher auch king crab. Entsprechend wurden die Tiere innerhalb der Krebstiere verortet. In Aquarien waren sie zusammen mit Krebsen und Krabben ausgestellt und als Krebstiere ausgewiesen, etwa im weltweit ersten öffentlichen Aquarienhaus im Londoner Zoologischen Garten im Regent’s Park.14 Gleiches galt für den Naturalien- und Tierhandel, beispielsweise bei der Firma Umlauff, die Pfeilschwanzkrebse in ihrem “Catalog über Muscheln, Corallen, Gorgonien und Seethiere” anbot.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden jedoch vermehrt Stimmen laut, die nachweisen wollten, dass Pfeilschwanzkrebse enger mit den Spinnenartigen als mit Krebsen verwandt sind. Um diese Frage der Artenbestimmung zu klären, waren vergleichende Untersuchungen notwendig, wie jene des Londoner Zoologen Edwin Ray Lankester, der 1881 im Quarterly Journal of Microscopical Science zwei einschlägige Artikel mit dem Titel “Limulus as Arachnid” veröffentlichte.15 Die vergleichenden anatomischen Studien waren auf Material angewiesen. Auch hier spielten ab den 1860er Jahren Aquarien als Beobachtungsstätte und Bezugsquelle eine wichtige Rolle. Edwin Lankester erhielt für seine anatomischen und histologischen Studien lebende Pfeilschwanzkrebse vom Royal Westminster Aquarium in London. In Hamburg bekamen Zoologen wie Karl August Möbius Pfeilschwanzkrebse aus dem dortigen Zoo-Aquarium. 16 Nicht zufällig nahmen daher ab den 1870er Jahren die Studien zum Pfeilschwanzkrebs zu.17 Nachdem Lankester und andere zu dem Schluss gekommen waren, dass die Tiere mehr Merkmale mit Spinnen und Skorpionen gemein hatten als mit Krebstieren, wurde Limulus polyphemus im Jahr 1901 in die Gruppe der Chelicerata eingeordnet. Der Pfeilschwanzkrebs wechselte damit innerhalb der taxonomischen Ordnung die Gruppe.18
Hier werden die Dynamiken taxonomischen Wissens sichtbar, die zeigen, dass das taxonomische System ein Resultat wissenschaftlicher Arbeit und damit historischen Wandlungen unterworfen ist. Es folgte ein physischer Ortswechsel innerhalb des Museums.19 Die Präparate der Pfeilschwanzkrebse wanderten von der Sammlung der Crustaceen zu den Arachnida und Myriapoda, den Spinnentieren und Tausendfüßlern, wo sie neu verzeichnet wurden und eine neue Signatur erhielten. Bei manchen Objekten im Museum für Naturkunde Berlin ist ihre ursprüngliche taxonomische Einordnung und ihr ehemaliger Sammlungsort in der Krebssammlung noch sichtbar. Hinter dem Akronym ‘ZMB’ (für Zoologisches Museum Berlin, was die Zuordnung zu einer speziellen Sammlung ermöglicht) und der Inventarnummer für Spinnentiere (etwa ‘48490’) findet sich ein Zusatz in Klammern, der auf die alte Signatur verweist und an die wechselhafte Taxonomiegeschichte der Art erinnert:
ZMB 48490 [ex crustacean no. 5928], 4 juveniles, alcohol; Nahant, Massachusetts, USA; leg. Fröbel, date not recorded; good condition.20
Ähnliches gilt für die Schausammlungen, deren räumliche Wissensorganisation lange auf eine systematisch-taxonomische Konzeption zielte. Während Pfeilschwanzkrebse im 19. Jahrhundert in der Abteilung der Krebstiere ausgestellt waren, sind sie im 20. Jahrhundert zu den Spinnentieren umgezogen. Auf der ‘Biodiversitätswand’ im Museum für Naturkunde Berlin, einer vier Meter hohen und 12 Meter langen Installation, die rund 3.000 Tiere aus allen Lebensräumen ausstellt, findet man daher heute den Pfeilschwanzkrebs neben Skorpionen und Spinnen.
Die Wissenschaft hat nicht nur Pfeilschwanzkrebse innerhalb des taxonomischen Systems neu bestimmt. Die Bewegung durch Wissens- und Sammlungsräume verändert das, was das Tier war und was es ist. In diesem Sinne sind Museumssammlungen und die darin stattfindende Forschung auch Orte des world-making, die die Natur neu ordnen.
Vom Meer ins Labor: Verwertungsgeschichten
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hielten Pfeilschwanzkrebse Einzug in neue wissenschaftliche Kontexte und wurden Teil einer experimentellen Praxis, die sie noch weiter mit dem Menschen verband. Denn Mitte der 1950er Jahre fanden Forscher:innen heraus, dass das Blut der Pfeilschwanzkrebse (das durch den Kupferanteil blau gefärbt ist) reich an Amöbozyten ist, also Zellen, die unmittelbar auf Giftstoffe reagieren.21 Daraufhin entwickelten Mediziner wie Frederik Bang und Jack Levin in den 1960er Jahren aus dem Blut von Limulus polyphemus den sogenannten Limulus-Amöbozyten-Lysat-Test (LAL-Test). Dieser Test macht sich zunutze, dass das Limulus-Blut bei Kontakt mit bestimmten Bakterien gerinnt. Wenn also die Immunzellen im Blut des Pfeilschwanzkrebses auf eingedrungene Bakterien treffen, verklumpen sie um diese herum und schützen den restlichen Körper des Tieres vor den Toxinen. Durch diesen Gerinnungsfaktor, der bereits kleinste Mengen von Krankheitserregern nachweisen kann, können bakterielle Verunreinigungen, sogenannte Endotoxine, angezeigt werden.22 Seit den 1970er Jahren wird der LAL-Test zum Nachweis von Endotoxinen im menschlichen Blutserum verwendet und in den Vereinigten Staaten vermarktet. Dazu werden die Krebse im Frühjahr, wenn sie – insbesondere in Delaware Bay – zu Tausenden aus dem Meer kommen, um sich zu paaren und zu laichen, mit Schleppnetzen gefangen oder am Strand eingesammelt und in spezialisierte Labore biomedizinischer Unternehmen gebracht. Dort wird ihnen mit einer Kanüle aus dem Herzen bis zu einem Drittel ihres Blutes entnommen, woraufhin sie wieder an den Fangort zurückgebracht und lebend freigelassen werden. Welche Kurz- und Langzeitschäden sie durch die Blutentnahme davontragen, weiß man noch nicht sicher, doch nehmen Studien, die diese Frage behandeln, zu.23
Die biomedizinische Forschung brachte Pfeilschwanzkrebse in neue Räume, namentlich moderne Labore, in denen die Tiere, genauer gesagt ihr Blut, zur wertvollen Ressource wurde – auf dem Weltmarkt wurde der Preis für einen Liter Limulus-Blut vor einigen Jahren bereits auf rund 15.000 Dollar geschätzt.24 Seit der Zulassung des LAL-Tests hat der Bedarf an Pfeilschwanzkrebsen für die Pharmaindustrie schrittweise zugenommen, da der Test heute Standard für das Screening sowohl implantierbarer medizinischer Geräte als auch injizierbarer Medikamente und biologischer Proben auf bakterielle Verunreinigungen ist.25 Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie Lebewesen von der angewandten Forschung als wichtig – und lukrativ – entdeckt und industriell vermarktet werden, wie etwa Cycladophora davisiana oder Seidenraupen. Genau genommen ist die Biomedizin nicht das einzige Feld, in dem Pfeilschwanzkrebse vom Menschen verwertet werden; schon früher wurden die Tiere in der Landwirtschaft (als Dünger) und der Fischerei (als Köder) eingesetzt.26 Doch sind merkliche Veränderungen in den Populationen vor allem in den letzten Dekaden zu verzeichnen. Der unregulierte Fang von Limuli in den späten 1990er Jahren führte zu einem drastischen Rückgang der Populationen in den USA. Ihre Verwendung in der biotechnischen Industrie verändert die Lebenswelt der Menschen und gleichzeitig die Lebensbedingungen der Pfeilschwanzkrebse tiefgreifend. Die wissenschaftliche Forschung und ihre Anwendungen erweisen sich auch in diesem Sinne als Prozesse des world-making, wodurch eine für den Menschen wichtige medizinische Ressource gesichert, dafür aber das Leben der Tiere gefährdet wird.
Die durch den Fang reduzierte Laichaktivität der Limuli hat darüber hinaus nicht nur Auswirkungen auf die Art, sondern auf größere ökologische Zusammenhänge, da Pfeilschwanzkrebse ein wichtiges Bindeglied für die Biodiversität an den Küsten sind. Die Eier, die die Tiere jedes Jahr im Frühjahr am Strand der Delaware Bay ablegen, sind eine wichtige Nahrungsquelle für Zugvögel wie den Knutt (Calidris canutus). Sie landen jedes Jahr zur Zeit des Laichs der Pfeilschwanzkrebse in der Bucht, auf ihrem fast 30.000 Kilometer langen Weg, den sie jährlich von Feuerland an der Südspitze Südamerikas in die kanadische Arktis und zurück absolvieren. Der merkliche Rückgang der Pfeilschwanzkrebs-Population seit den 1990er Jahren korrelierte daher mit einem sichtbaren Rückgang der Küstenvogelpopulation. Trotz der Einführung von Fangquoten und verschiedenen Initiativen zum Schutz der Pfeilschwanzkrebse auf nationaler und internationaler Ebene stufte die Weltnaturschutzunion (IUCN) den Pfeilschwanzkrebs 2016 als gefährdet ein.27 Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass zwar inzwischen eine künstliche Alternative zum LAL-Test entwickelt wurde, diese jedoch in den USA noch nicht standardmäßig eingesetzt wird,28 während gleichzeitig der Bedarf an Tests weiter steigt – und zwar aktuell mehr denn je, da der LAL-Test auch in der Impfstoffentwicklung eingesetzt wird. Seit Beginn der Corona-Pandemie werden mehr als 100 verschiedene Impfstoffe getestet. Die erfolgreichen Impfstoffe müssen sorgfältig geprüft werden, bevor sie auf dem Markt eingeführt werden, was den Bedarf an Limulus-Serum weiter steigert. Pfeilschwanzkrebse spielen daher im Leben von fast jedem und jeder eine wichtige, wenn auch wenig bekannte Rolle.
Verbindungen wie die hier geschilderten und die damit verknüpften Abhängigkeiten und Dynamiken werden häufig erst sichtbar, wenn wir die Wege und Bewegungen von Tieren und Arten verfolgen und zueinander in Beziehung setzen. Dafür ist es wichtig, die Geschichte einzelner Tiere durch verschiedene (Wissens-)Räume hinweg zu verfolgen, etwa vom Meer in Aquarien, Museumssammlungen oder Laboren. Dazu gehört zugleich, die Geschichte der Art zu untersuchen, insbesondere die unterschiedlichen Disziplinen, Anwendungsfelder und Ökologien, in denen die Art eine Rolle spielte oder spielt. Ein solcher Blick deckt Genealogien auf und macht deutlich, auf welche Weise die Welten und Leben von Menschen und Tieren ineinander verstrickt sind. Dieses Wissen kann auch für die Gegenwart und Zukunft genutzt werden. So haben Erkenntnisse über die Verbindungen zwischen den Migrationsrouten von Zugvögeln wie dem Knutt und der Laichaktivität der Pfeilschwanzkrebse in Delaware Bay zu artübergreifenden Ansätzen in der Ökologie und im Artenschutz geführt.29 Ebenso können historische Sammlungsdaten in Naturkundemuseen und historische Berichte zur menschenbedingten Verbreitung von Pfeilschwanzkrebsen für aktuelle Fragen des Biodiversitätsverlusts genutzt werden. In diesem Sinne sind Wissensräume wie Sammlungen und Labore zugleich Räume des world-making, die Lebensbedingungen, Lebensräume und Leben verändern. Es bleibt die Herausforderung, daraus auch Visionen für ein Zusammenleben in der Zukunft finden.
- Vgl. Jason A. Dunlop, Marlene S. Compton und Anja Friederichs. “An Annotated Catalogue of the Horseshoe Crabs (Xiphosura) Held in the Museum für Naturkunde Berlin”. Zoosystematics and Evolution 88, Nr. 2 (2012): 215-222, 215. https://doi.org/10.1002/zoos.201200018. Ich danke Jason Dunlop für viele hilfreiche Hinweise zu den Präparaten und ihrer Geschichte.↩
- 1885 etwa erwarb die Lehrsammlung ein Trockenpräparat der Firma Umlauff für fünf Mark; zwischen 1891 und 1894 verzeichnet der Katalog den Erwerb von drei Nasspräparaten der Berliner Naturalienhandlung Linnaea für zwei, fünf und sechs Mark; vgl. Zoologisches Institut (ZIB). Inventarbuch V, Bd. 1.↩
- Zur Geschichte des Aquariums im 19. Jahrhundert vgl. Mareike Vennen. Das Aquarium: Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910). Göttingen: Wallstein, 2018.↩
- Hierzu gehören Carcinoscorpius rotundicauda (Latreille, 1802), Tachypleus gigas (O. F. Müller 1785) und Tachypleus tridentatus (Leach, 1819). Die nordatlantische Art ist in eine eigene Unterfamilie eingeordnet.↩
- Nachdem der Import der Tiere zunächst vor allem in der Hand von Tier- und Naturalienhändlern lag, wurden sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch in New York selbst in Aquarien gehalten, die Tiere abgaben. Das New York Aquarium eröffnete 1896 im Battery Park in Manhattan, das später nach Coney Island umzog. Zwischen 1876 und 1883 gab es bereits ein Aquarium in der Stadt, das Great New York Aquarium an der Straßenecke 35th Street/Broadway, gegründet von W.C. Coup, einem Veteranen im New Yorker Showgeschäft und Partner von P.T. Barnum. Auch dort waren Pfeilschwanzkrebse zu sehen, damals noch unter dem Namen ‘King Crab’; vgl. das New York Aquarium Journal, hg. von New York Aquarium 1 (1876).↩
- Vgl. Wilhelm Hess. Führer durch J.G. Egestorff’s Aquarium zu Hannover: Eine kurze Uebersicht der darin befindlichen Thiere. Hannover: Druck von Wilhelm Riemschneider, 1867: 35; William Alford Lloyd. “On the Occurrence of Limulus Polyphemus off the Coast of Holland, and on the Transmission of Aquarium Animals”. The Zoologist 9 (1874): 3845-3855, 3850.↩
- Zum Aquarium Unter den Linden vgl. Alfred Brehm. Führer durch das Berliner Aquarium: Eine kurze Beschreibung der in ihre zur Schaugestellten Thiere. Berlin: Verlag des Berliner Aquariums, 1870: 83-84. Im Berliner Zoo-Aquarium trafen in den Jahren 1920, 1925, 1928, 1930 und 1934 Sendungen mit Pfeilschwanzkrebsen aus dem New Yorker Aquarium ein; vgl. die entsprechenden Geschäftsberichte des Zoologischen Gartens Berlin.↩
- Da das Präparat ‘ZMB 48487’ undatiert ist, könnten mit dem “Berliner Aquarium” zwei unterschiedliche Einrichtungen gemeint sein: Von 1869 bis 1910 existierte das Aquarium Unter den Linden, wo bereits ab 1870 Pfeilschwanzkrebse zu sehen waren; vgl. Brehm, 1870. Aus den alten Sammlungskatalogen wissen wir, dass das Zoologische Institut von dort bereits im November 1895 Exemplare erhielt; vgl. Zoologisches Institut (ZIB). Inventarbuch V, Bd. 1, Nr. 3409; Zoologisches Institut (ZIB). Inventarbuch V, Bd. 2, Nr. 4301. Nachdem das Haus 1910 schließen musste, eröffnete drei Jahre später im Zoologischen Garten ein neues Aquarium. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg wurde es durch das New York Aquarium jährlich mit Sendungen von zehn bis 20 lebenden Pfeilschwanzkrebsen beschenkt und gab wiederum tote Limuli an das Zoologische Institut ab; vgl. Actien-Verein des Zoologischen Gartens Berlin. Geschäftsbericht für das Jahr 1914. Berlin: 1915.↩
- Vgl. Stefan Richter. “Die Lehrsammlung des Zoologischen Instituts der Berliner Universität: Ihre Geschichte und ihre Bedeutung”. Sitzungsberichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 37 (25. Februar 1999): 59-76, 64.↩
- Dunlop, 2012: 215.↩
- Die Nummern, die mit ‘48’ beginnen, werden erst in jüngerer Zeit vergeben und zwar vornehmlich an ältere Exemplare, erklärt der Kurator der Spinnensammlung, Jason Dunlop.↩
- Gleichzeitig hängt das Wissen über die Limuli ganz existenziell vom Leben bzw. dem Tod der Tiere (etwa ihrer Transportierbarkeit und Überlebensfähigkeit im Aquarium) und von ihrer Materialität (etwa der beschädigten Materialität der Trockenpräparate) ab.↩
- Vgl. etwa Otto Frederik Müller. Entomostraca seu Insecta Testacea. Havnia: Sumtibus J.G. Mülleriani, 1785; Bosc, L. S. G. Histoire naturelle des crustacés, contenant leur description et leurs moeurs; avec figures dessinées d’après nature. Paris: Deterville, 1802; Desmarest, A.-G. Considerations générales sur la classe des crustaces. Paris: Levrault, 1825.↩
- Im Aquarienführer heißt es: “In the tanks in the centre of the house will be found some curious Crustaceans – such as the King-crab (Limulus)”. Philip Lutley Sclater. Guide to the Gardens of The Zoological Society of London. 20. Auflage. London: 1876.↩
- Edwin Ray Lankester. “Limulus an Arachnid”. Quarterly Journal of Microscopical Science, New Series 21 (1881): 504-548, 609-649; vgl. auch R. Heymons. “Die Entwicklungsgeschichte der Scolopender”. Zoologia 33 (1901): 1-244.↩
- Lankester, 1881; vgl. auch Heymons, 1901; William Alford Lloyd. “On the Occurrence of Limulus Polyphemus off the Coast of Holland, and on the Transmission of Aquarium Animals”. The Zoologist 9 (1874): 3845-3855, 3850.↩
- Vgl. etwa Anton Dohrn. “Untersuchungen über Bau und Entwicklung der Arthropoden”. Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft 5 (1870): 54-81; Carl Gegenbaur. “Anatomische Untersuchung eines Limulus”. Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft Halle 4 (1858): 227-250; Alphonse Milne-Edwards. Recherches sur l’anatomie des Limules. Paris: 1873; Alpheus Spring Jun. Packard. The Development of Limulus Polyphemus. Boston: Society of Natural History, 1872.↩
- Das macht sie zu etwas Besonderem, da es sich um die einzigen Spinnentiere handelt, die unter Wasser leben. Zu den jüngsten Untersuchungen in der Diskussion um die Taxonomie von Pfeilschwanzkrebsen vgl. Richard J. Howard, Mark N. Puttick, Gregory D. Edgecombe und Jesus Lozano-Fernandez. “Arachnid Monophyly: Morphological, Palaeontological and Molecular Support for a Single Terrestrialization within Chelicerata”. Arthropod Structure & Development 59 (2020): Nr. 100997. https://doi.org/10.1016/j.asd.2020.100997.↩
- Viele Museums- und Universitätssammlungen organisieren bis heute ihre Sammlungen nach der biologischen Systematik der Klasse, Ordnung, Familie, Gattung und Art, wenn auch der Umsetzung dieser systematischen Ordnung durch räumliche Beschränkungen oft Grenzen gesetzt sind. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wurden im Zuge der Museumsreformbewegung viele Sammlungen der naturhistorischen Museen in Europa zweigeteilt - in eine öffentliche Schausammlung und eine nichtöffentliche Forschungssammlung; vgl. Lynn K. Nyhard. Modern Nature: The Rise of the Biological Perspective in Germany. Chicago: The University of Chicago Press, 2009; Susanne Köstering. Natur zum Anschauen: Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871-1914. Köln: Böhlau, 2003.↩
- Dies ist der Eintrag in Dunlop, 2012.↩
- Durch die Untersuchungen von Howell im Jahr 1885 waren schon damals die Ähnlichkeiten zwischen der Gerinnung des Blutes beim Menschen und der Gerinnung der Hämolymphe (‘Blut’) beim Limulus nachgewiesen worden. Doch erst 70 Jahre später wurden die Untersuchungen weiterverfolgt, als Bang 1956 eine bakterielle Infektion in einer Pfeilschwanzkrebs-Population beschrieb, die zur Gerinnung des Blutes führte; vgl. Manfred Liebsch. “Die Geschichte der Validierung des LAL- Tests”. ALTEX 12, Nr. 2 (1995): 76-80, 78.↩
- Zur Geschichte des LAL-Test vgl. etwa J. Levin. “The History of the Development of the Limulus Amebocyte Lysate Test”. Progress in Clinical and Biological Research 189 (1985): 3-30.↩
- Bilder von diesem Prozedere finden sich etwa hier: https://www.nationalgeographic.com/animals/article/covid-vaccine-needs-horseshoe-crab-blood (23.11.2021). Für Untersuchungen zu den Auswirkungen der Blutentnahme vgl. L. Hurton und J. Berkson. “Potential Causes of Mortality for Horseshoe Crabs (Limulus polyphemus) During the Biomedical Bleeding Process”. Fishery Bulletin 104 (2006): 293-298; E.A. Walls und J. Berkson “Effects of Blood Extraction on the Mortality of the Horseshoe Crab, Limulus polyphemus”. Virginia Journal of Science 51, Nr. 3 (2000): 195-198. Anne Rudloe. “The Effect of Heavy Bleeding on Mortality of the Horseshoe Crab, Limulus polyphemus, in the Natural Environment”. Journal of Invertebrate Pathology 42, Nr. 2 (1983): 187-176. https://doi.org/10.1016/0022-2011(83)90059-9.↩
- Vgl. Alok Das. “Horseshoe Crabs in Modern Day Biotechnological Applications”. In Changing Global Perspectives on Horseshoe Crab Biology. Ruth H. Carmichael et al (Hg.). Cham: Springer, 2015: 463-473, 470.↩
- Das, 2015.↩
- Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Pfeilschwanzkrebse als Düngemittel in der Landwirtschaft und später als Köder in der Fischerei eingesetzt und sie werden in manchen Regionen gegessen; vgl. R.E. Loveland, M.L. Botton, und C.N. Shuster Jr. “Life History of the American Horseshoe Crab (Limulus polyphemus L.) in Delaware Bay and its Importance as a Commercial Resource”. In Proceedings of the Horseshoe Crab Forum: Status of the Resource, J. Farrell und C. Martin (Hg.). Lewes: University of Delaware, Sea Grant College Program, 1996: 15-22; David R. Smith, Michael J. Millard, and Ruth Herrold Carmichael. “Comparative Status and Assessment of Limulus polyphemus, with Emphasis on the New England and Delaware Bay Populations”. In Biology and Conservation of Horseshoe Crabs, John T. Tanacredi, Mark Botton, and David R. Smith (Hg.). New York: Springer, 2009: 361-386.↩
- D.R. Smith et al. “Limulus polyphemus”. The IUCN Red List of Threatened Species 2016: e.T11987A80159830. https://dx.doi.org/10.2305/IUCN.UK.2016-1.RLTS.T11987A80159830.en↩
- Zu den Testverfahren vgl. Tom Maloney, Ryan Phelan und Naira Simmons. “Saving the Horseshoe Crab: A Synthetic Alternative to Horseshoe Crab Blood for Endotoxin Detection”. PLoS Biology 16, Nr. 10 (Oct. 2018). https://doi.org/10.1371/journal.pbio.2006607.↩
- Vgl. etwa Conor P. McGowan et al. “Multispecies Modeling for Adaptive Management of Horseshoe Crabs and Red Knots in the Delaware Bay”. Natural Resource Modelling 24, Nr. 1 (2011): 117-156.↩