Die allererste Bekanntschaft mit Cycladophora davisiana machten Wissenschaftler:innen nicht etwa während einer eben darauf abzielenden Forschungs- oder Entdeckungsreise, sondern im Kontext eines gänzlich anderen und in keinerlei Zusammenhang stehenden Vorhabens, sodass die wissenschaftliche Beschreibung dieser Art eher als zufälliges Nebenprodukt entstand, was im Übrigen auch für viele weitere Arten zutrifft. Am 29. August 1859 lief die Wiman, eine kleine, 197 Tonnen schwere Segelbarke, aus dem Hafen von Boston in Richtung London aus. Das von Oberst Taliaferro Preston Shaffner gecharterte Schiff brachte den aus Kentucky stammenden Anwalt, Ingenieur und Unternehmer, gemeinsam mit seiner Frau, seinem gesamten Haushalt und seinem Personal über England nach Dänemark. Die Reise war Teil von Shaffners Vorhaben, eine nordatlantische Telegrafenlinie zu verlegen, die Europa mit Nordamerika verbinden sollte.2 Im Jahr zuvor war unter großem Aufwand eine Leitung zwischen Neufundland und Irland verlegt worden. Doch ein schwaches Signal trübte die Begeisterung über diese erste transatlantische Verbindung, die schließlich nach nur wenigen Wochen ausfiel.3 Dieser Misserfolg stärkte die Entschlossenheit Shaffners, der das Problem vorausgesehen hatte. Seine Telegrafenlinie sollte über Grönland, Island und die Färöer-Inseln verlaufen und dort jeweils über Land verlegt werden, wodurch er sich ein wesentlich beständigeres Signal erhoffte. Während Shaffner also nach Europa reiste, um Unterstützer für sein Vorhaben zu finden, war seine Crew angewiesen, diese alternative Route zu vermessen. Unterwegs erfasste Proben, Daten und Beobachtungen sollten die Eignung der von ihm vorgeschlagenen Route sowie die Durchführbarkeit des Vorhabens bestätigen und dem Ganzen einen wissenschaftlicheren Charakter verleihen. In einer dieser vom Meeresboden der Davisstraße vor der Küste Grönlands entnommen Proben wurde das erste Exemplar des heute als Cycladophora davisiana bekannten Organismus entdeckt.
In der Geschichte unseres von immer komplexeren Kommunikations- und Austauschnetzwerken umgebenen Planeten ist dies lediglich eine kleine Randnotiz aus dem 19. Jahrhundert.4 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts überzogen ihn prallel zu den Telegrafenleitungen immer mehr Eisenbahnlinien, aber auch Dampfschiffe und Straßen. Diese Infrastrukturen und (Kommunikations-)Kanäle wiederum erleichterten und prägten auch den Aufbau internationaler berufsständischer, finanzieller, politischer und wissenschaftlicher Netzwerke, siehe dazu auch Auf verschwommenen Pfaden und Logistische Metabolismen.5 C. davisiana profitierte von mehreren unter ihnen: Beispielsweise arrangierte Shaffner mithilfe eines Erfinders und Kollegen auf dem Gebiet der Telegrafie, dem deutschen Industriellen Werner Siemens,6 dass seine Proben an das Zoologische Museum in Berlin geschickt wurden, um dort von dem berühmten Naturforscher Christian Gottfried Ehrenberg analysiert zu werden. Der Erfolg Ehrenbergs, der sich schon in seiner Jugend auf wissenschaftlichen Expeditionen einen Namen gemacht hatte, gründete auch auf anderen Verbindungen: Er war weltweit vernetzt und pflegte Korrespondenzen mit den berühmtesten Naturforschenden seiner Zeit, darunter Humboldt und Darwin. Obwohl die Nordatlantikleitung von Shaffner letztlich nie verlegt wurde, sollte die Vermessungsfahrt der Wiman weiterhin eine – wenn auch unerwartete und nicht unmittelbar ersichtliche – Rolle in dieser weiter gefasste Geschichte erdumspannender Netzwerke und Verflechtungen spielen. Mit ihr begann die Geschichte von Cycladophora davisiana, und sie half dabei, einen formlosen Klumpen ozeanischen Sediments in eine für wissenschaftliche Analysen geeignete Probe zu verwandeln. Die Klassifizierung von Cycladophora war der nächste Schritt in dieser Geschichte, die sich größtenteils im späteren Museum für Naturkunde Berlin abspielen sollte.
- Christian Gottfried Ehrenberg. “Übersicht über die Tiefgrund-Verhältnisse des Oceans am Eingange der Davisstrasse und bei Island”. Monatsberichte der Königlichen Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1862): 293. https://www.biodiversitylibrary.org/item/111883#page/293/mode/1up (03.01.2022).↩
- Der Großteil der verfügbaren Informationen zur Nordatlantik-Telegrafenlinie und zu Shaffner ist enthalten in Steven Roberts. “The Northern Line – The Arctic Cables”. History of the Atlantic Cable & Undersea Communications, 29.09.2020 (erstmals veröffentlicht 2009), https://atlantic-cable.com/CableCos/NorthernLine/index.htm (03.01.2022). Die Webseite https://atlantic-cable.com ist eine weitere hervorragende Quelle für jene, die an der soziotechnischen Geschichte der Telegrafie interessiert sind. Für weitere Informationen, siehe auch Philip Allingham. “The Electric Telegraph: Telecommunications Wonder of the Railway Age, 1791 to 1852”. The Victorian Web, 10.05.2011, https://victorianweb.org/technology/telecom/telegraph.html (03.01.2022).↩
- Allison Marsh. “The First Transatlantic Telegraph Cable Was a Bold, Beautiful Failure”. IEEE Spectrum, 31.10.2019, https://spectrum.ieee.org/tech-history/heroic-failures/the-first-transatlantic-telegraph-cable-was-a-bold-beautiful-failure (03.01.2022).↩
- Eine ausführliche Erläuterung, wie die Unterseekabel und unterseeische Infrastruktur von heute mit der Telegrafie des 19. Jahrhunderts zusammenhängen, findet sich in: “The Cables That Connect Our World”. London Science Museum, ohne Datum. https://www.sciencemuseum.org.uk/cables-connect-our-world (03.01.2022); Sean Trainer. “What the Digital Age Owes to the Inventor of Morse Code”. TIME, 27.04.2016, https://time.com/4307892/samuel-morse-telegraph-history/ (03.01.2022).↩
- Doch die Auswirkungen der Telegrafie gingen noch weit darüber hinaus. Das Zusammentreffen von Telegrafie und Eisenbahn trug maßgeblich zur Standardisierung der Zeit bei, die bis heute unseren Rhythmus bestimmt. Siehe “Standardising Time: Railways and the Electric Telegraph”. London Science Museum, 4.10.2018. https://www.sciencemuseum.org.uk/objects-and-stories/standardising-time-railways-and-electric-telegraph (03.01.2022).↩
- Für weitere Informationen über das folgenreiche Leben von Werner Siemens, siehe Johannes Bähr. Werner von Siemens. Berlin: Siemens Historical Institute, 2016. https://assets.new.siemens.com/siemens/assets/public.1506341669.aa87da6d048c9a60c037d5771ceded36576c39a5.085-shi-communication-lifelines-5-werner-von-siemens-2016-web-e.pdf (03.01.2022).↩