Mikropaläontologie auf See

Story Mikrofossilien und die Erforschung der Ozeane

Zeitschriftseite. Foto: zwei Männer, die Helme tragen. Bildunterschrift: Autor Steinbeck und Fotograf Goro auf dem Deck der Cuss I.

“High Drama of Bold Thrust through Ocean Floor”, eine Reportage von John Steinbeck über die Phase I des Weltraumzeitalter-Projekts Mohole für das Magazin Life, 14. April 1961. Mit dem Projekt Mohole wuchs das internationale Interesse an der Durchführung von Tiefseebohrungen, was die Mikropaläontologie radikal veränderte.

Die globalen Konflikte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhöhten das Verlangen der Gesellschaft nach fossilen Brennstoffen. So setzte die industrielle Mikropaläontologie, die für die Erdölexploration schnell entscheidend geworden war, ihren Siegeszug fort. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich die Forschung der Mikropaläontolog:innen fast ausschließlich auf Foraminiferen konzentriert. Als die Ölförderung immer profitabler wurde und eine immer detailliertere Kenntnis der globalen Stratigrafie erforderte, entwickelte sich ein neues Verständnis der komplexen Dynamik der Erde. In diesem Zusammenhang stellte William Rex Riedels1 Neubewertung der Verbreitungsgebiete der Radiolarien einen Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte der Mikropaläontologie dar. Riedel umschiffte die wissenschaftlichen Sackgassen des vorherigen Jahrhunderts. Seine Neubewertung führte zu neuen Forschungsfragen und -richtungen. Bereits als Doktorand hatte Riedel begonnen, sich mit dieser seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend vernachlässigten Gruppe zu beschäftigen. Als Riedel das Material der “HMS Challenger”-Expedition von 1872-1876 analysierte,2 das vor ihm Ernst Haeckel untersucht hatte, bemerkte er, dass der deutsche Naturforscher oftmals nicht angemessen zwischen älteren Fossilien und jüngerem Material unterschieden hatte. Er erkannte also, dass die Formen der Radiolarienarten eben keine große stratigrafische Reichweite aufweisen, sondern in der Tat sehr gut für die Biostratigrafie geeignet sind. Da sie sich innerhalb relativ kurzer geologischer Intervalle stark verändern, bietet die Analyse der Abfolge ihres Auftretens, ähnlich wie im Fall der Foraminiferen, ein hilfreiches Instrument zur Ordnung geologischer Formationen und Korrelierung verschiedener Strata. Nach den früheren, weniger erfolgreichen Erfahrungen mit der Mikropaläontologie auf See, die Ende des 19. Jahrhunderts darin geendet waren, dass Wissenschaftler:innen die Bedeutung der Mikrofossilien übersehen hatten, sollten die Mikropaläontolog:innen fortan erneut intensiv in die Erforschung der Ozeane einbezogen werden.

Vor allem die Einführung des Kolbenlots,3 eines Werkzeugs, das die Entnahme von bis zu neun Meter langen Bohrkernen vom Grund der Tiefsee ermöglicht, trug zur Rückkehr der Mikropaläontologie auf See bei. Als Riedel 1950 nach Schweden reiste, um die ersten derartigen, von der wissenschaftlichen Albatross-Expedition4 gesammelten Bohrkerne zu untersuchen, wurde ihm der Wert dieser Proben für die Mikropaläontologie bewusst. Und als er im folgenden Jahr nach Kalifornien zog, nahm er diese Erkenntnis mit an die Scripps Institution of Oceanography5 und arbeitete fortan daran, dass die Mikropaläontologie in der Nachkriegs-Ozeanografie eine zentrale Rolle einnahm. Riedel und andere erkannten schnell, dass die Stratigrafie des Meeresbodens verblüffende und wichtige Hinweise enthielt, die nicht nur für die Rohstoffindustrie nützlich waren, sondern auch ein besseres Verständnis dynamischer erdgeschichtlicher Prozesse ermöglichten. Parallel dazu beförderten und transformierten neue Techniken, die aus den Entwicklungen der Kernphysik während des Krieges hervorgingen, die Wissensproduktion in anderen Bereichen, wie die Beiträge von Cesare Emiliani veranschaulichen.6 In den 1950er Jahren arbeitete Emiliani am Enrico Fermi Institute for Nuclear Science als wissenschaftlicher Mitarbeiter im geochemischen Labor von Harold Urey, der mit seinen Forschungen Pionierarbeit bei der Untersuchung der Beziehungen zwischen stabilen Isotopen und Umweltvariablen leistete. Durch die Anwendung dieser Erkenntnisse auf Foraminiferen war Emiliani in der Lage, eine Verbindung zwischen Veränderungen der in den Mikrofossilien enthaltenen Sauerstoffisotope und Veränderungen der Meerestemperaturen nachzuweisen: Er zeigte, dass die Informationen, die in den über lange Zeit am Meeresboden sedimentierten Mikrofossilien enthalten sind, als Paläothermometer fungieren können. Sie geben Aufschluss über Umweltveränderungen in der Biochemie der Mikroorganismen, die wiederum auf vergangene Temperaturveränderungen hinweisen; weitere Beispiele dafür, wie Organismen ihre Funktion und ihren Status ändern, finden sich in Logistische Metabolismen.

All diese neuen Erkenntnisse der Mikropaläontologie basierten auf der Untersuchung von Ozeansedimenten und insbesondere auf den darin enthaltenen Mikrofossilien. Es stellte sich heraus, dass sie umfangreiche und nützliche Daten zum Verständnis der tiefer liegenden und weniger sichtbaren Prozesse liefern, die unseren Planeten formen: Daten aus Mikrofossilberichten bieten zum Beispiel experimentelle Beweise für die Theorie der Plattentektonik, für die Polaritätswechsel (“Polsprünge”) im Erdmagnetfeld sowie für die Auswirkung von Veränderungen der Erdbahnparameter auf Kaltzeitzyklen, siehe Cycladophora davisiana.7 Die Verfügbarkeit dieses riesigen Apparats, der zum Sammeln der Proben und Daten benötigt wurde, war das Resultat einer tiefgreifenden epochalen Veränderung im Bereich der Technikwissenschaften, in Gang gesetzt durch die Forschungen zu Kriegszeiten und weiter beschleunigt durch die Geopolitik der Nachkriegszeit: Das Aufkommen der ‘Big Science’. Umfangreiche staatliche Förderung (auch zu militärischen Zwecken) trieb diese neue Form der Wissenschaft voran, der nun größere Budgets, Teams, Labore und Werkzeuge zur Verfügung standen. Mit den neuen Möglichkeiten der Tiefseeforschung wurde die Verbindung zwischen Mikropaläontologie und Ozeanografie effektiv gefördert. Das von Riedel, Emiliani und vielen anderen Wissenschaftler:innen vorangetriebene Ziel, die globalen Ozeane und insbesondere ihre Stratigrafie zu erforschen und zu dokumentieren, brachte eine Reihe von Forschungsprojekten hervor, die bis heute fortgeführt werden. Dank dieser technologischen und konzeptionellen Veränderungen nahm die Relevanz der Mikropaläontologie nicht nur als praktisches Anwendungsfeld in der Rohstoffindustrie zu. Auch ihre Rolle als grundlegendes Werkzeug für die Erforschung erdgeschichtlicher Dynamiken wurde immer deutlicher. Wie die Beispiele von Riedel und Emiliani zeigen, stand diese neue Rolle der Mikropaläontologie vor allem mit den laufenden Bemühungen im Zusammenhang, die Erdgeschichte und ihre geologischen Schichten und Ressourcen zu kartieren. Doch damit diese Kartierung gelingen konnte, musste eine Unmenge an Daten aus unterschiedlichen Quellen gesammelt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Schon bald zeigte sich, dass Museen und andere wissenschaftliche Einrichtungen und Sammlungen zentral für dieses Unterfangen waren, welches uns heute ermöglicht, neue Geschichten über Mikroben und Planeten zu erzählen.


  1. Über Riedels Leben gibt es weitere Informationen in dem elektronischen Journal, das er in den frühen Tagen des Internets mitgestaltet hat: siehe “William Riedel”. Paleontologica Electronica (Staff), ohne Datum, https://palaeo-electronica.org/staff/bill.htm (01.07.2021).
  2. Hierbei handelt es sich um eine der berühmtesten ozeanografischen Wissenschaftsexpeditionen des 19. Jahrhunderts. Siehe Ben Lerwill. “HMS Challenger: The Voyage that Birthed Oceanography”. BBC Online, 21.07.2020. https://www.bbc.com/travel/article/20200719-hms-challenger-the-voyage-that-birthed-oceanography (01.07.2021); Kate Golembiewski. “H.M.S. Challenger: Humanity’s First Real Glimpse of the Deep Oceans”. Discover Magazine, 20.04.2019. https://www.discovermagazine.com/planet-earth/hms-challenger-humanitys-first-real-glimpse-of-the-deep-oceans (01.07.2021). Für eine umfassendere Darstellung der historischen Erkundung der Tiefsee, siehe Helen M. Rozwadowski. Fathoming the Ocean: The Discovery and Exploration of the Deep Sea. Cambridge: Harvard University Press, 2005.
  3. Zur Funktionsweise dieses Bohrers, siehe: “Piston Corer”. Woods Hole Oceanographic Institution, ohne Datum. https://www.whoi.edu/what-we-do/explore/instruments/instruments-sensors-samplers/piston-corer/ (01.07.2021).
  4. Pettersson, Hans. “The Swedish Deep-Sea Expedition”. Nature 162 (1948): 324-325. https://scholarspace.manoa.hawaii.edu/bitstream/10125/9061/1/vol2n4-231-238.pdf (01.07.2021).
  5. Scripps ist auch heute noch eine der renommiertesten Institutionen der Ozeanografie. Siehe “Scripps History”. UC San Diego, ohne Datum. https://scripps.ucsd.edu/about/history (01.07.2021).
  6. Zu Cesare Emiliani: siehe Paul F. Hoffman. “The Tooth of Time: Cesare Emiliani”. Geoscience Canada 39, Nr. 1 (2012): 13-16. https://journals.lib.unb.ca/index.php/GC/article/view/19452/21009 (01.07.2021); William W. Hay und Eloise Zakevich. “Cesare Emiliani (1922-1995): The Founder of Paleoceanography”. International Microbiology 2 (1999): 52-54. http://www.soes.soton.ac.uk/staff/tt/eh/ce.html (01.07.2021).
  7. Zur Entwicklung der Paläozeanografie im Kontext der Geschichte des Datensammelns, siehe: Christof Rosol. “Hauling Data: Anthropocene Analogues, Paleoceanography and Missing Paradigm Shifts”. Historical Social Research, 40, Nr. 2 (2015): 37-66. https://doi.org/10.12759/hsr.40.2015.2.37-66.
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